Wolfgang Engler: "Authentizität!"
Verlag Theater der Zeit, März 2017
218 Seiten, 18 Euro
Wie sinnvoll ist Authentizität?
Authentisch sein ist ein Gebot unserer Zeit. Für den Soziologen und Philosophen Wolfgang Engler birgt es die Gefahr, dass wir verlernen zu spielen, uns Fremdes anzueignen. Das hat in seinen Augen auch einen "Moment von Zensur".
Authentisch sein – das gilt heutzutage als eine der vordringlichsten Eigenschaften eines vollwertigen Zeitgenossen. Und alle glauben genau zu wissen, was damit wirklich gemeint ist. Dabei saugt das Wort "Authentizität" wie ein Schwamm durchaus unterschiedliche Begriffe in sich auf: Man soll ganz bei sich, unverstellt, ohne Fassade sein – aber eben auch glaubwürdig, überzeugend wirken. Wolfgang Engler ist dem Diktat zum "Echt sein" exemplarisch in einer Hotelbroschüre begegnet:
"Einer in der Runde, Toni mit Namen, bringt es auf den Punkt, indem er sagt: Großartig, das Motel One, hier muss ich mich nicht verstellen, hier kann ich sein, wie ich wirklich bin – wo gibt’s denn das überhaupt noch? Das sagt jemand von der Rezeption im Motel One. Und wenn der das schon sagt..."
... dann ist dieses "Sei immer du selbst!" längst auch von der Ökonomie instrumentalisiert worden, ebenso wie von der Politik und der Kunst. Der Authentizitätsanspruch eignet sich perfekt zur Selbstausbeutung: Wer im Beruf sein "echtes" Selbst verwirklicht – der ist auch rund um die Uhr für diesen Beruf einsatzbereit.
Die Frage ist nur:
"Wie sind Menschen denn wirklich? Das ist ja eine schwer zu beantwortende Frage. Was sagen Philosophen, Anthropologen, Leute, die sich mit Menschen beschäftigen, dazu: Wie sind Menschen wirklich, was ist ihre Wirklichkeit? Und ist das eine glaubwürdige Äußerung von Toni, dass er sich nicht verstellt? (...) So, wie wir heute hier zusammen sind, sind wir da so, wie wir wirklich sind? Geben wir unseren spontanen Aktionsimpulsen nach? Oder bereiten wir uns auf einen öffentlichen Auftritt nicht doch vor, in dem wir uns konditionieren?"
Im Theater lösen "echte Menschen" den Schauspieler ab
Den Spielarten und dem "Terror" der Authentizität geht Engler in seinem Essay historisch nach. Es ist ein geistreiches Flanieren durch Philosophie, Psychologie, Soziologie – mit kleinen Ausflügen in die Tagespolitik. Dabei zeigt er, wie der ursprünglich richtige Impuls, sich seelisch zu erforschen und falsche Masken abzustreifen, zu einem Verbot mutiert ist, sich Anderes, Fremdes spielerisch anzueignen. Und er wendet sich gegen den Absolutheitsanspruch der Authentizität:
"Subthemen wie cultural appropriation, also: Trag keine Frisur, die andere Leute tragen, denn du eignest sie dir an, koche kein Essen, das andere besser kochen können, denn du eignest dir eine fremde Erfahrung an – dann wird es geradezu lebensgefährlich."
Auch und gerade im Theater hat das Authentisch-Sein Karriere gemacht: "Experten des Alltags", "echte Menschen" lösen den Schauspieler ab, der in unterschiedlichste Rollen schlüpft. Wer betritt mit welchem Recht die Bühne? Darf ein weißer, privilegierter Schauspieler einen Schwarzen spielen, einen Flüchtling, einen Obdachlosen? Engler berichtet im Gespräch, dass Schauspielschüler heute vermehrt diskutieren, welche Sätze sie auf der Bühne aus ihrer eigenen Empfindsamkeit heraus nicht sprechen möchten:
"Das hat auch einen Moment von Zensur. Wenn Menschen anfangen, ihre Gefühle zu verallgemeinern, ihre Empfindsamkeiten zu verallgemeinern, sind sie Zensoren. Und man kann sich die Frage stellen, warum das Zensoramt aus den Händen des Staates in die Hände der Zivilgesellschaft gewandert ist. Und das, finde ich, ist eine der beklemmendsten Fragen der Gegenwart."
Grundsätzliche Aussagen fehlen
Engler spricht sich in seinem Buch klar für die Autonomie der Kunst aus, die er von Moralisierung, Ökonomisierung und Verrechtlichung bedroht sieht. Er gibt kluge Hinweise und kritisiert mit ironischen Spitzen die Authentizitätsmoden, für die auch das Berliner Theatertreffen steht, wenn es sich stolz darüber zeigt, dass es immer mehr performative Stückentwicklungen statt literarischer Texte präsentieren kann. Oder auch Florian Malzacher vom Impulse Festival, der die professionelle Verwandlungsfähigkeit von Schauspielern nur noch als Anmaßung sehen kann.
Wer sich jedoch eine profunde, konsequente Analyse des grassierenden Authentizitätsfiebers auf den deutschsprachigen Bühnen versprochen hat, wird eher enttäuscht. Englers Ansatz bleibt zu impressionistisch. Von einem Theaterintellektuellen seines Niveaus hätte man sich grundsätzlichere Aussagen zur Gefährdung der klassischen Schauspielkunst gewünscht, die von der Performance-Welle ja nicht nur bereichert, sondern zunehmend auch verdrängt wird.