Philosophie aus den Archiven: Hans Georg Gadamer

Von der Kunst zu verstehen

36:50 Minuten
Philosoph Prof. Dr. Hans-Georg Gadamer stützt sich auf seinen Gehstock während eines Fotoshootings kurz vor seinem 100. Geburtstag in der Aula der Universität Heidelberg 1999.
Sein Leben war dem Verstehen gewidmet: Hans-Georg Gadamer, kurz vor seinem 100. Geburtstag. © imago/Dieter Bauer
Moderation: Simone Miller |
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Shitstorms, Cancel Culture, gesellschaftliche Spaltung: Haben wir verlernt, uns zu verstehen? Und was können wir dagegen tun? Antworten finden sich bei Hans-Georg Gadamer, dem Philosophen der Hermeneutik – der Kunst des Verstehens.
"Ein gebildeter Mensch ist ein Mensch, der mit den Gedanken des anderen mitgehen kann." So habe Hegel einmal gesagt, erinnert sich Hans-Georg Gadamer in einem Gespräch zu seinem 100. Geburtstag. Der zitierte Satz bringt sehr gut auch Gadamers eigenes Denken auf den Punkt: Gebildet sei, so führt er weiter aus, wer "seine Selbstliebe überwinden" könne, "sodass er hört, was der andere sagen will."

Verstehen ist mehr als Messen

Eine Bemerkung, die aktueller nicht sein könnte, in Zeiten, in denen wohlwollendes Zuhören zunehmend rar wird und unsere Gesellschaft auseinanderzudriften droht. Ein guter Zeitpunkt also, um einen Meister-Philosophen des Verstehens zu Wort kommen zu lassen: Hans-Georg Gadamer, 1900 geboren, war einer der bedeutendsten Vertreter der Hermeneutik, also des Nachdenkens über das Verstehen und Interpretieren. Mit seinem Hauptwerk "Wahrheit und Methode" (1960) wurde er international bekannt und prägte eine ganze Denkschule.
Wir senden Auszüge aus einem Gespräch, das Bernd Stappert im Jahr 2000 mit Gadamer führte, und in dem der Hundertjährige, zwei Jahre vor seinem Tod, noch einmal wesentliche Momente seines Denkens aufgreift. Ein zentraler Aspekt dieses Denkens ist Gadamers Kritik an einem zu einseitigen Vernunftbegriff, der einem ganzheitlichen Verstehen der Welt und der Mitmenschen im Weg stehe: "Wahres Erfassen der Wirklichkeit besteht eben nicht nur darin, dass wir über sie, aufgrund unserer messenden Wissenschaft verfügen, sondern auch, dass wir ihr eigenes Richtigsein erfahren lernen."

Das innere Maß der Dinge gelten lassen

Und dafür brauche es neben dem wissenschaftlich-technischen Weltzugang noch etwas anderes, ein "Wissen, das eben nicht Wissenschaft ist": die Fähigkeit, sich auf das Wesen, auf den Eigensinn der Welt einzulassen. Das "richtige Maß", auf das es dabei ankommt, sei gerade nicht "das Maß, mit dem wir messen, das wir an etwas herantragen. Sondern es ist das Maß, das das Seiende selber hat: das innere Maß einer Sache".
Im Zusammenhang damit steht für Gadamer auch ein Verständnis von Vernunft, das über eine wissenschaftlich-instrumentelle Rationalität hinausgeht: Dafür entlehnt er dem Altgriechischen den Begriff der "phronesis", der sich in etwa als "Vernünftigkeit" übersetzen lasse – aber eben "eine Vernünftigkeit, die nicht nur die besten Mittel zu blödsinnigen Zwecken findet, sondern auch eine Vernünftigkeit, die sich vernünftige Zwecke setzt".

Sprechen kann man nur miteinander

In der modernen westlichen Welt beobachtet Gadamer hingegen ein Ungleichgewicht zugunsten des technisch-messenden Weltzugangs. Die daraus resultierenden "Gleichgewichtsstörungen zu balancieren", sei heute eine "Menschheitsaufgabe". In diesem Kontext betont Gadamer, "wie fragwürdig es ist, den Export unserer Zivilisation in geschlossene Zivilisationen und Lebensformen zu betreiben" und warnt ausdrücklich vor einem "falschen Kolonialismus".
Am Ende kommt Gadamer noch einmal auf das antike Griechenland zurück: Das "Schöne" sei dort immer mit "der Öffentlichkeit des Forums" verbunden gewesen, nämlich wörtlich übersetzt als "das, bei dem man sich sehen lassen kann". Das Politische sei also tief "in unseren menschlichen Lebenserfahrungen verwurzelt" – auch und gerade im Sprechen: "Denn bekanntlich gibt es keine Sprache eines Einzelnen. Es gibt nur eine Sprache, die man miteinander spricht." Ein Umstand, den wir – wie Gadamer lange vor Twitter mahnt – durch "technische Hilfsmittel" zu vergessen drohten. Eine Mahnung, die heute, da die gesellschaftlichen Gräben tiefer werden, umso dringlicher scheint.
(ch)

Außerdem in dieser Ausgabe von Sein und Streit:

Rassismus und Rechtsextremismus: Neue Formen der Solidarität gesucht
Rassismus nur als Problem am "rechten Rand" zu verstehen, verkennt den Kern des Problems. Denn Rassismus ist ein weitverzweigtes gesellschaftliches Phänomen. Was wir wirklich brauchen, sind neue Formen der Teilhabe, meint Robin Celikates.

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