Fabian Bernhardt: "Rache. Über einen blinden Fleck der Moderne"
Matthes & Seitz, Berlin 2021
413 Seiten, 28 Euro
Die verdrängte Seite der Moderne
36:47 Minuten
Wie du mir, so ich dir? Rache hat im modernen Selbstbild nichts zu suchen – Rachegefühle sind uns aber keineswegs fremd, sagt der Philosoph Fabian Bernhardt. Er fordert, die Rache unvoreingenommen zu betrachten, um sie besser zu verstehen.
Auge um Auge, Zahn um Zahn: Wenn von Rache die Rede ist, dann denken wir oft an blutige Exzesse in grauer Vorzeit, anderen Ländern oder sogenannten Parallelgesellschaften. In Wirklichkeit, sagt der Philosoph Fabian Bernhardt, ist uns die Rache vertrauter, als wir uns weismachen: "Die Affekte und Gefühle, die auf Rache drängen, sind uns nicht fremd geworden – aber sie werden in unserer Gesellschaft nicht mehr als Handlungsmotivationen anerkannt. Und wenn man aus Rache heraus handelt, auch in alltäglichen Formen, die vielleicht wenig dramatisch sind, dann wird man das in der Regel nicht zugeben."
Rache vs. Recht?
Rache, so schreibt Bernhardt in seinem gleichnamigen Buch, sei der "blinde Fleck der Moderne". Und die Philosophie habe daran beträchtlichen Anteil: "Wenn sich Philosophinnen und Philosophen in der Aufklärung mit Rache beschäftigt haben, dann nicht, um Rache besser zu verstehen oder zu beschreiben, sondern es ging immer sofort um die Frage der Legitimität. Und damit setzt etwas ein, was ich als theoretische Verdunkelung bezeichne."
In Antike und Mittelalter sei noch deutlich differenzierter über Rache nachgedacht worden – erst mit der Aufklärung beginne eine pauschale moralische Aburteilung der Rache: "Da werden keine Differenzierungen mehr vorgenommen. Und das hat natürlich ganz viel mit der Herausbildung des staatlichen Straf- und Gewaltmonopols zu tun." Rache und Recht werden fortan als Gegensätze begriffen: "Die Rache wird ausgesondert aus dem Reich des Rechts, sie wird zum Inbegriff des Anderen der Moderne überhaupt – und all der Werte, für die die Moderne einsteht."
Der Mythos vom Naturzustand
Dass moderne Gesellschaften die Rache derart von sich weisen, diene so auch der Selbstvergewisserung über den erreichten Fortschritt. Das gelinge aber nur um den Preis eines falschen Bilds von der Rache in vormodernen Gesellschaften: "Es gibt die verbreitete Vorstellung, dass in Gesellschaften, die nicht staatlich verfasst sind, sämtliche Konflikte im Medium der Gewalt ausgetragen werden und im Grunde nur das Recht des Stärkeren gilt." Bernhardt führt diese Vorstellung nicht zuletzt auf Thomas Hobbes Idee des "Naturzustands" zurück, in dem ein "Krieg aller gegen alle" herrsche, der erst durch den Staat überwunden werden könne.
Dieser Idee von vorstaatlichen Gesellschaften liege aber ein Missverständnis zugrunde: Nur, weil es dort keine Institutionen gebe, die unseren rechtlichen Institutionen ähneln, bedeute das nicht, dass es gar kein Recht gibt: "Rache in vormodernen Gesellschaften ist rechtsförmig und ist eben nicht das Andere des Rechts." Die "Vergeltungslogik", nach der dort Konflikte ausgetragen werden, folge strengen öffentlichen Regeln. Auch sei die Vergeltung von Gewalt mit Gegengewalt eher die Ausnahme: "Die Regel ist eigentlich, dass man auf andere Weise einen Ausgleich zu finden versucht, in Form von Kompensation. Und sehr häufig sind das dann bestimmte Güter, die von einer Gruppe zur anderen wandern."
Ein Beispiel dafür ist das sogenannte "Wergeld" – von lateinisch "vir" für "Mann" – als Kompensation für die Familie eines Getöteten. Bei diesen Transaktionen stehe aber nicht der materielle Wert der Güter im Vordergrund. Wesentlich sei vielmehr der "symbolische Gehalt". Bernhardt vergleicht das mit Geschenken in unserer Gesellschaft: "Bei einem richtigen Geschenk kommt es auch nicht auf den materiellen Wert an, sondern auf die Haltung, mit der das überreicht wird, auf den Geist, von dem diese Gabe beseelt ist."
Die Moderne hat Rache ins Kino verbannt
Tatsächlich sei diese "rächende Gerechtigkeit" in vormodernen Gesellschaften also keineswegs rein affektgetrieben, sondern folge oft einem komplexen Aushandlungsprozess. Die Vermischung von Affekt und Rationalität, ist laut Bernhardt charakteristisch für die Rache: "Rache kommt eigentlich nie ohne ein gewisses rationales Element aus. Von heißer Leidenschaft getrieben zu sein und mit kühler Berechnung vorzugehen, schließen sich da keineswegs aus." Belege dafür findet er in den zahlreichen Racheerzählungen in Literatur und Film – von der Odyssee über den Grafen von Montechristo bis zu heutigen Kinofilmen: "Da ist Rache eigentlich der Inbegriff von instrumenteller Vernunft: Es ist bemerkenswert, welcher Planungsaufwand in so ein Racheprojekt einfließt."
Film und Literatur, das "kulturelle Imaginäre", das ist Bernhardt zufolge auch der Bereich – neben dem Kopfkino persönlicher Vergeltungsphantasien – , in dem die Rache in modernen Gesellschaften ihren Platz behält, nachdem sie offiziell aus ihnen verbannt wurde: "Man könnte sagen, das Imaginäre ist das Affektreservat, in das diejenigen dunklen, vermeintlich destruktiven Regungen, die auf Rache aus sind, umgesiedelt werden."
Selbst die imaginäre Rache der Popkultur sei aber in der Moderne meist nur als "gebrochene" zu haben: Batman kann, anders als Achilles, nur noch mit Maske, als ein Alter Ego, seine Rache üben – für Rache sei aber die Sichtbarkeit des Rächers wesentlich. Wenn er sich nicht zu erkennen gebe, "dann kann das, was Batman tut, auch keine Rache mehr sein". Stattdessen werde er zum "erweiterten Arm der Polizei". "Die Rache hört dadurch im Grunde auf, Rache zu sein – weil der Leidende und der Handelnde nicht mehr in derselben Identität zusammenfinden."
Rache von ihren negativen Vorzeichen befreien
Für die Zukunft wünscht sich Bernhardt eine differenziertere Betrachtung der Rache. Um sie besser zu verstehen, so ist Bernhardt überzeugt, sei es zunächst nötig, sie "von ihren negativen Vorzeichen zu befreien". Dabei geht es ihm ausdrücklich nicht um eine Infragestellung des modernen Rechtsstaats, sondern um ein wahrheitsgetreueres Bild unserer Geschichte: "Ich bin ein großer Fan der Rechtsstaatlichkeit, das ist sehr viel wert, aber ich halte es für problematisch, wenn man daraus eine lineare Entwicklung macht: Wenn man sich anguckt, wie viel Gewalt die Moderne auch hervorgebracht hat, dann halte ich es für schwierig, an so einer linearen Fortschrittserzählung festzuhalten."
(ch)
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