Unsere Angst vor einem neuen 1939
Liefert Hitler die Blaupause für Putins Zündeleien in der Ukraine? Wiederholt der Westen Chamberlaines Appeasement-Politik? In Europa geht das Gespenst der Geschichte um - ausgerechnet im Super-Gedenkjahr 2014.
"Ein Gespenst geht um, es ist das Gespenst der Geschichte", schreibt Bernd Ulrich in der Wochenzeitung "Die Zeit" - und das ist keine billige Dramatisierung. Tatsächlich stehen die politisch-militärischen Krisen im Super-Gedenkjahr 2014 teils in sachlicher, teils in suggestiver Verbindung zu den Ereignissen, derer gerade gedacht wird.
Ablesbar an den Worten des polnischen Ministerpräsidenten Donald Tusk, der am 75. Jahrestags des Einmarsches der Wehrmacht in Polen beschwor: "Wenn wir heute auf die Tragödie der Ukrainer blicken, auf den Krieg im Osten unseres Kontinents, dann wissen wir, dass der September 1939 sich nicht wiederholen darf."
Nun könnte man mit dem Politikwissenschaftler Herfried Münkler beruhigen: "Die Geschichte wiederholt sich nicht, zumindest nicht in exakt der Form, in der sie schon einmal stattgefunden hat." Aber Münkler selbst betont, die Konstellationen, die Ereignisabfolgen zugrunde liegen, seien "einander oft ähnlich". Und er zieht alarmierende Parallelen zwischen dem heutigen China als überstarker Zentralmacht Ost-Asiens und dem Deutschen Reich 1914.
"Die Vergangenheit ist nicht tot, sie ist nicht einmal vergangen"
Muss man vor diesem Hintergrund auch fürchten, dass Hitlers Volten eine Blaupause für Putins Zündeleien liefern? Steckt der Westen mit seiner militärischen Zurückhaltung in der Beschwichtigungs-Falle - wie einst der britische Premier Chamberlain mit der Appeasement-Politik? Kommt trotzdem oder deswegen der große Krieg - heute wie damals? Oder zumindest der Kalte Krieg? Gemäß der Parole William Faulkners: "Die Vergangenheit ist nicht tot, sie ist nicht einmal vergangen."
In der Philosophie kennt man diesen Gedanken, der Fortschrittsgläubigen widerstrebt: Dass sich die Dinge wiederholen und Ereignisse nicht einmalig sind, sondern zyklisch wiederkehren. Friedrich Nietzsche hat poetische Worte dafür gefunden: "Alles geht, Alles kommt zurück; ewig rollt das Rad des Seins. Alles stirbt, Alles blüht wieder auf, ewig läuft das Jahr des Seins. Alles bricht, Alles wird neu gefügt; ewig baut sich das gleiche Haus des Seins."
Die Verse werden im "Zarathustra" übrigens von Tieren vorgetragen, Zarathustra bespöttelt sie als "Leier-Lied". Nietzsche selbst sah die Wiederkunft-Idee aber als "mächtigsten Gedanken" an - was noch kein Beweis für die Richtigkeit ist.
Das Super-Gedenkjahr liefert düsteren Weltkriegs-Stoff
Ist "Wiederkunft" womöglich nur Unfug? Das philosophische Pendant zur psychischen Störung namens Déjà-vu? Nein! Nicht für Denker, die jenseits der Logik des Linearen Erkenntnisse erbeuten wollen. Goethe sah die Menschheit immer wieder in Gegenden zurückkehren, "wo sie schon einmal durchgegangen. Auf diesem Wege wiederholen sich alle wahren Ansichten und alle Irrtümer".
Oswald Spengler vertrat eine Zyklentheorie der Kultur, die in "Der Untergang des Abendlandes" von 1918 kulminierte - ein teils hellsichtiges Buch, das von Rechtskonservativen und Nazis gefeiert, aber auch von Theodor W. Adorno verteidigt wurde. Gilles Deleuze hat in "Differenz und Wiederholung" Nietzsches Konzept zur komplexen "Wiederkehr des Differenten" ausgebaut.
Nun führt kein direkter Weg von der Philosophie zu den akuten Krisen. Aber offenbar kann das Vergleichs-Tier Mensch tatsächlich nichts anders, als die Wiederkunft des Gleichen oder zumindest Ähnlichen - in konkreter Form - immer wieder zu erwägen.
Das aktuelle Super-Gedenkjahr liefert dabei notorisch düsteren Weltkriegs-Stoff. Und nie wird man erfahren, ob in anderen Jahren die Kriegs-Besorgnis kleiner wäre. So kommt es auf beides an: Dass der Wiederkunft-Gedanke für das nötige Quantum Alarm sorgt und trotzdem nicht zur self fulfilling prophecy wird.