Philosophie des Corona-Fußballs

Das Spiel als Schatten seiner selbst

08:39 Minuten
Fußballspieler wärmen sich vor dem Anpfiff auf dem Spielfeld auf. Die dunkle Zuschauertribüne ist leer und mit Pappfiguren anstelle von Zuschauern bestückt.
Traurige Veranstaltung: Die Spieler der Town Mannschaft Luton wärmen sich vor leeren Zuschauerrängen auf. © picture alliance / empics / Zac Goodwin
Martin Gessmann im Gespräch mit Dieter Kassel |
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Keine Fans, kein Körperkontakt, kein Jubel: Der Profi-Fußball leidet ebenso wie andere Branchen unter den Corona-Einschränkungen. Dabei erfüllt er eine wichtige Funktion, erklärt der Philosoph Martin Gessmann. Dennoch sollte man auf dem Rasen bleiben.
Durch die Corona-Lockdowns verbringen wir so viel Zeit zu Hause wie nie zuvor. Das sind eigentlich beste Bedingungen fürs Fußballvergnügen vor dem heimischen Fernseher. Doch der Profisport leidet ebenso wie jede andere Branche unter Einschränkungen und Verlusten: Geisterspiele ohne Fans, Vermeidung von Zweikämpfen, fehlender Jubel und mangelndes Interesse. Immerhin können Spiele aber stattfinden, die Bundesligen sind in vollem Betrieb.
Dennoch: "Es ist nicht mehr das, was es vorher war, man ist nicht mehr so dabei. Die Stimmung und die Atmosphäre fehlen", sagt der Philosoph Martin Gessmann, der sich unter anderem mit der Ästhetik des Fußballs beschäftigt. "Mein Eindruck ist, dass das Ganze vom Volkssport zur Nerd-Veranstaltung wird." Er vergleicht die aktuelle Zuschauersituation mit einem Videospiel. Manche würden inzwischen sogar behaupten, Fußball würde zum E-Sport, so Gessmann weiter.

Fußball ist mehr als nur Unterhaltung

"Es hat eine besondere Qualität, wenn man mitgenommen wird. Dort sind Emotionen im Spiel", sagt der Kulturwissenschaftler und erklärt weiter: "Fußball hat eine viel größere Rolle als eben nur Unterhaltung zu sein." Auch im Homeoffice empfinde jeder Mensch täglich Emotionen und Aggressionen. Und Fußball habe dahingehend eine Ventilfunktion.
Schon Aristoteles habe in Bezug auf das Theater festgestellt: "Man verausgabt sich dort ein Stück weit und kann danach wieder anders weitermachen", sagt Gessmann. Wenn das fehle, sei man unbefriedigt.
Eine intensivere Auseinandersetzung mit dem Fußballsport findet aber nicht erst seit Beginn der Corona-Pandemie statt, sondern bereits Jahre zuvor. Gessmann erläutert dieses Phänomen: "Der Fußball ist besser geworden in den letzten dreißig bis vierzig Jahren. Er ist athletischer und schneller geworden, aber auch taktisch anspruchsvoller." Man sehe inzwischen deutlich häufiger "geniale Szenen", so der Philosoph. Und weiter: "Fußball ist eben nicht nur großes Kino, sondern auch anspruchsvolles Kino geworden." Darüber könne man anders schreiben und nachdenken.
Ein als Geist gekleideter Mann steht auf einer leeren Zuschauertribüne im Stadion.
Geisterspiele gefallen keinem - weder Spielern noch Fans. In der Corona-Pandemie sind sie aber unumgänglich.© picture alliance / AP / Kerstin Joensson
Gessmann beschäftigt sich auch mit der Fankultur und setzt diese beispielsweise in Relation zur Politik. Die Frage, warum man Fan eines bestimmten Vereins ist, beantwortet der Philosoph mit dem Wiedererkennungswert des eigenen Ichs in der Projektion. Der CSU-Vorsitzende Markus Söder hatte am politischen Aschermittwoch einen Vergleich zwischen der SPD und Schalke 04 gebracht. "Die haben noch nie funktioniert, aber sie kommen immer wieder", spottete Söder.
"Da ist schon was dran", lacht Gessmann. "Politik, die verstanden werden kann, ist Fußball. Man bekommt intuitiv so viel mit, was an Strategie, Ausrichtung und Programm alles möglich und umsetzbar ist." Wenn wir das nicht hätten und nicht richtig dabei sein könnten, fehle laut Gessmann etwas.

Impfpriorisieung könnte nach hinten losgehen

Zuletzt wurde darüber debattiert, Fußballer möglicherweise bevorzugt gegen das Coronavirus zu impfen, um eine mögliche Vorbildwirkung zu installieren. Fußball habe immer über das Argument funktioniert, dass er Nebensache sei, sagt Gessmann: "Wenn Fußballer jetzt zuerst geimpft werden sollen, dann werden sie zur Hauptsache. Man versteht dann nicht mehr, warum Pflegende, Lehrende oder Politiker und Politikerinnen hinten anstehen sollen und die Profis sind weiter vorn dran." Gessmann befürchtet, dass solch eine Maßnahme die Stimmung kippen und Fans nach dem Ende der Pandemie gar nicht mehr ins Stadion zurückgehen könnten.
Porträt des Philosophen Martin Gessmann.
Der Philosoph Martin Gessmann beschäftigt sich mit der Ästhetik und Kultur des Fußballs.© Felicitas von Lutzau
Als Langzeitfolge der Beziehung zwischen Fußball und Zuschauer stellt sich Gessmann nicht die Frage, ob der Fußball nach dem Ende der Pandemie noch derselbe sein wird, sondern ob wir noch dieselben sein werden. "Es wäre schon, wenn wir mit freiem Herzen und geschärftem Blick ins Stadion gehen und uns klar ist, was wir dort eigentlich suchen und mehr Freude haben." Jedoch könne er als Philosoph die Situation nicht abschätzen.
(lsc)
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