Bettina Hesse (Hg.): "Die Philosophie des Singens"
Mairisch Verlag, Hamburg 2019
272 Seiten, 22 Euro
Die Seele der Gedanken spüren
05:41 Minuten
Singen macht nicht umsonst glücklich – wer singt, erfährt die Seele der vertonten Gedanken. Deshalb hören jetzt auch die Geisteswissenschaften genau hin: Gerade ist die erste "Philosophie des Singens" erschienen.
"Ich ergebe mich auf ewig dem Klagen", Orpheus hat Eurydike endgültig verloren. Mit seinem Gesang, der sogar wilde Tiere besänftigt, hatte Orpheus den Göttern die Erlaubnis abgetrotzt, seine verstorbene Geliebte aus der Unterwelt zurückzuholen. Aber weil er sich auf dem Rückweg entgegen der Anweisung nach Eurydike umdrehte, verschwand sie für immer.
Vom Sinn des Singens: Philosophische Pionierarbeit
Der Mythos des begnadeten Sängers Orpheus wurde unzählige Male vertont, denn Orpheus gilt als erster Gesangsstar: "Er unternimmt sozusagen die erste Kulturleistung. Und damit kann man den Gesang als Urform der Kunst ansehen", sagt Bettina Hesse, Herausgeberin der Aufsatzsammlung "Die Philosophie des Singens". Mit ihrem Buch wolle sie Pionierarbeit leisten:
"Eine Philosophie des Singens gibt es nämlich gar nicht. Im Gegensatz zu einer Philosophie der Musik geht die Philosophie des Singens vom eigenen Tun, der eigenen Stimme aus."
Platon will die Stimme zügeln
Singen steht in Mythos und Geschichte am Anfang aller Kultur: Von der Antike bis zum Mittelalter waren Gesang und Dichtung untrennbar miteinander verbunden. Homers Odyssee oder das Nibelungenlied wurden gesungen oder rezitiert – nur im stimmlichen Vortrag galt das Werk als vollständig. Bis ins 19. Jahrhundert las man sich auch Bücher selbst laut vor. Trotzdem habe die Philosophie seit der Antike Stimme und Gesang ignoriert, so Hesse:
"Die Stimme galt ganz lange als reines Transportmittel für Gedanken. Für Platon ist sie das dienende Werkzeug gewesen, der Gesang dient der Wahrheit und der Sittlichkeit, das Singen muss streng reguliert werden. Es geht im Grunde um eine moralische Formation, aber nie um wirklichen Gesang oder das, was wir heute eine Philosophie des Singens nennen könnten."
Nietzsche hört die Seele singen
Erst Friedrich Nietzsche habe dem Gesang eine genuine Bedeutung zugestanden, sagt Bettina Hesse: "Besonders im 'Zarathustra' taucht immer wieder der Appell auf: ‚Lerne singen, oh meine Seele‘. Er hat als Gedanken eingeführt, dass die Stimme eine sehr persönliche Angelegenheit ist, an einer Stelle sagt er, das Sprechen ist mehr als das, was man davon aufschreiben kann. Es geht um das Verborgene, eine Struktur des Menschen, die nicht nur von der rationalen Überlegung, sondern vom Tun herkommt."
Die Stimme transportiert mehr von unserem Inneren, als uns klar ist. Sie ist körperlich, das unterscheidet den Gesang vom Instrument, so Hesse: "Wir sind Stimme und haben Stimme. Man hört sich singen und man singt."
Rilke sucht den Klang der Nacht
Nietzsches Gedanken vom Gesang als Ausdruck des Verborgenen griff Rainer Maria Rilke in seinen "Sonetten an Orpheus" auf, in denen er das unausgesprochen Mitschwingende in Sprache übersetzen wollte. Nach der Katastrophe des Ersten Weltkriegs sei das Erforschen speziell der Nachtseiten menschlicher Existenz für Rilke zur poetischen Notwendigkeit geworden, sagt Bettina Hesse:
"In den 'Sonetten an Orpheus' betont er das Orphische Prinzip als Erfahrung des Dunkels: Man muss das Dunkle durchdringen, um zum Gesang zu kommen. Von ihm ist ja auch fast das Motto des Buches: Gesang ist Dasein."
Ein Gesangslehrer verliert seine Stimme
Der Gang in den Hades als Erforschung der eigenen Urgründe. Geprägt von den Schrecken des Ersten Weltkriegs war auch Stimmpionier Alfred Wolfsohn, der wie Rilke dem Gesang existenzielle Bedeutung zumaß.
"Wolfsohn hat seine Stimme und sein Gedächtnis verloren durch Erfahrungen im Ersten Weltkrieg", erklärt Hesse. "Daraufhin hat er angefangen, sich mit der menschlichen Stimme zu befassen, denn kein Arzt konnte ihm helfen." Als Gesangslehrer habe Wolfsohn mit den, wie er sagte, ungenutzten Ausdrucksmöglichkeiten der menschlichen Stimme experimentiert:
"Sein Ansatz ist, dass die Stimme ein Phänomen ist, das mich als Singenden sehr stark zur Analyse meiner eigenen Persönlichkeit führt. Das ist das, was Rilke die Erfahrung des Dunkels nennt: das In-Sich-Hineinhören."
Singen als Erkenntnisform
Gesang bedeutet dabei eine Vielfalt von Lauten. "Die Philosophie des Singens" zeigt das Singen als Erkenntnisform, in der großes Potential, aber auch die Gefahr der Manipulation steckt - Gesang ist politisch. Den Chor beschreibt Maximilian Probst in seinem Aufsatz als Gemeinschaftserlebnis, das wie eine demokratische Polis im Kleinen funktioniert.
Mit dem Poetry Slam werde wieder an die über Jahrtausende gepflegte, heute verloren gegangene Verbindung von Stimme und Literatur angeknüpft – ein Indiz für diese Renaissance sei der Literatur-Nobelpreis für Bob Dylan. Und wenn die These stimmt, dass wir uns von einer Schrift- zur Stimmkultur bewegen, in der man Texte nicht mehr schreibt und liest, sondern diktiert und hört, wird die Stimme vielleicht in ganz neue Sphären des Ausdrucks aufbrechen.