Philosophie des Wohnens

Das unheimliche Smart Home

35:56 Minuten
In einem gläseren Haus sitzt ein Mann an seinem Schreibtisch.
Ganz für sich und mit der Welt verbunden: Die Datenleitungen moderner Smart Homes lassen die Wände unserer Wohnungen verschwinden, meint der Philosoph und Publizist Florian Rötzer. © Gettyimages / E+ / Mikkel William
Florian Rötzer im Gespräch mit Catherine Newmark |
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Homeoffice und Homeschooling verlagern Schule und Beruf nach Hause. Corona untergräbt die Grenzen zwischen öffentlich und privat. Die Pandemie beschleunige einen tiefgreifenden Wandel des Wohnens, sagt der Philosoph Florian Rötzer.
Das Coronavirus verbreitet sich weiterhin mit alarmierender Geschwindigkeit. Die Zahlen der täglich an oder mit einer Covid-19-Infektion Gestorbenen bleiben hoch. Angesichts des verschärften Lockdowns wird der Rückzug ins Private nun erst recht zur Bürgerpflicht.
Gleichzeitig brechen mit Homeoffice und Homeschooling neue Aufgaben von außen in die Privatsphäre ein und stellen den Alltag vieler Menschen auf den Kopf. Unter diesen Umständen ist es alles andere als abwegig, sich einmal grundsätzlich mit der Bedeutung des Wohnens zu beschäftigen.

Zurückgeworfen auf das eigene Zuhause

"Jetzt in Coronazeiten, wo wir immer stärker auf die eigene Wohnung angewiesen sind, merken wir im Grunde erst, was Wohnen eigentlich für uns bedeutet", sagt Florian Rötzer, Philosoph, Publizist und Gründer des Online-Magazins Telepolis. Da es kaum Ausweichmöglichkeiten gebe, werde uns umso mehr bewusst, ob unsere Wohnungen eigentlich unseren Bedürfnissen entsprechen – nicht zuletzt unter dem Eindruck, was wir besonders schmerzlich vermissen: "nach draußen zu gehen, uns mit anderen Leuten zu treffen, oder auch Geselligkeit im Innenraum zu haben".
Wie beeinflusst das Wohnen unser Wohlbefinden? Wie hat es sich im Lauf der Jahrhunderte gewandelt? Und wie wirkt es sich, historisch betrachtet, auf die kulturelle und geistige Entwicklung des Menschen aus? Diesen Fragen hat Florian Rötzer ein ganzes Buch gewidmet, in dem er das Phänomen des Wohnens philosophisch in den Blick nimmt.

Die Wohnung als ansprechbares Gegenüber

Elementare Betrachtungen gelten der Zellstruktur des Menschen: Rötzer bemerkt, dass dort bereits auf einer biologischen Ebene halb durchlässige Membranen zwischen Außen- und Innenräumen die Grundlage unserer Existenz bilden. Psychologische Tragweite entfaltet diese Struktur aus seiner Sicht, wo der Rückzug in abgeschlossene Räume den ersten Menschen Ansätze zur Entwicklung von Individualität ermöglicht habe: durch zeitweilige Absonderung von den ständigen Einflüssen eines Kollektivs.
Rötzers besondere Aufmerksamkeit gilt jedoch einer technischen Entwicklung, die sich nach seiner Beobachtung unter dem Einfluss der Pandemie derzeit beschleunigt: Durch elektronische Medien und digitale Assistenten werde unsere Wohnung inzwischen mehr und mehr vernetzt und wandle sich von einem leblosen Gehäuse zum ansprechbaren Gegenüber, an das wir direkt unsere Wünsche richten können:
"Schließ mir das Fenster auf, oder: Schalte die Waschmaschine ein, dimme das Licht herunter! Das kann man ja alles über diese digitalen Assistenten machen. Wir sprechen in gewissem Sinne dann zu unserer Wohnung, das Gehäuse wird in gewisser Weise lebendig."
Florian Rötzer, mit grauem Bart und grauem, lichtem Haar, in einem schwarzen Polo-Hemd, trägt ein Mikroport-Mikrofon an der Wange und steht an einem Rednerpult.
Wer sich vernetzt, ist auch verletzbar: Florian Rötzer diskutiert die Risiken des Zusammenlebens mit digitalen Assistenten.© Westend Verlag / Edward Beierle
Das vertraute Heim werde "unheimlich", sagt Rötzer, der sich mit dieser Entwicklung bereits in einem früheren Buch über sogenannte "Smart Cities" beschäftigt hat. Seine Skepsis gilt jedoch nicht nur dem ungewohnten Eigenleben der technischen Haushaltshelfer. Die Vernetzung der Wohnung schaffe auch eine neue Angriffsfläche.

Martin Heidegger und der Wunsch, Wurzeln zu schlagen

"Die Wohnung, die vernetzt ist, steht ja unter Dauerbeobachtung", so Rötzer: "Da sitzen Systeme dran, die diese Daten aufgreifen und die Wohnung zum Teil eines größeren digitalen Organismus machen." Dabei gelte allen positiven Visionen von "Smart Homes" und "Smart Cities" zum Trotz, "dass alles, was vernetzt ist, auch hackbar ist".
Im Lichte derart existenzieller Fragen, die das Wohnen gegenwärtig aufwirft, erscheint es umso überraschender, dass das Phänomen in der Geschichte der Philosophie kaum je gründlicher behandelt worden ist. Eine Ausnahme bilden zwei Denker des 20. Jahrhunderts, die im Hinblick auf das Thema geradezu gegensätzliche Positionen eingenommen haben: Martin Heidegger und Vilém Flusser.
Nach Heideggers Verständnis sei Wohnen zwar ein zentrales Element, welches "das Menschsein ausmacht" , erklärt Rötzer, doch es trage einen geradezu weltabgewandten Zug: "Es ist ein Wohnen, das nicht in Städten stattfinden kann, das eine Heimat benötigt, am ehesten vielleicht wie in seinem Haus im Schwarzwald, ganz oben, weit weg von anderen Menschen." Heideggers Idee von Wohnen sei auch nach dem Zweiten Weltkrieg noch von Anklängen an die "Blut-und-Boden"-Ideologie der Nationalsozialisten geprägt gewesen, sagt Rötzer.

Vilém Flusser und die Avantgarde der Bodenlosigkeit

In völlig konträrer Weise habe der jüdische Philosoph Vilém Flusser, der vor den Nazis fliehen musste, seinen Begriff von Wohnen aus der Erfahrung des Heimatverlusts heraus entwickelt, als er "allmählich entdecken konnte, dass diese Wurzellosigkeit – die nannte er später dann Bodenlosigkeit – etwas ungeheuer Befreiendes ist."
In seinem zunächst unfreiwillig von allen Bindungen losgelösten Zustand sei Flusser zu der Auffassung gelangt: "Heimat sind die Menschen, mit denen wir in Beziehung stehen, und mit denen können wir überall in Beziehung stehen, wo immer wir sind", erklärt Rötzer. "Deswegen waren für ihn eben auch die Kommunikationstechniken so wichtig, weil sie sozusagen eine globale Heimat ermöglicht haben."
Aus dieser nomadischen Weltsicht heraus, vertrat Vilém Flusser das Konzept eines beweglichen Philosophierens, welches nicht darauf aus war, auf Dauer angelegte Gedankengebäude zu errichten, sondern stattdessen spielerische "Denkzelte" aufzuschlagen. In diesem Sinne habe Flusser auch den Menschen als ein "Projektil" verstanden: ein Wesen, das sich ständig in die Zukunft hinein entwerfe, so Rötzer.

Das digitalisierte Heim der Zukunft

"Von daher waren für ihn die Techniken Möglichkeiten, etwas Neues zu entwickeln", so Rötzer, "während für Heidegger die Technik eine dubiose Geschichte ist, die den Menschen entfremdet." Völlig entsetzt habe Heidegger reagiert, als Satelliten erste Bilder von der Erde aus der Sicht des Weltalls aufgenommen hatten: "Das war für ihn eine Zerstörung unserer Existenz, wenn wir eben nicht hier verwurzelt bleiben."
So schieden sich zwei einflussreiche Geister des vergangenen Jahrhunderts an der Frage des Wohnens. Dessen weitere Entwicklung werde zweifellos im Zeichen digitaler Vernetzung stehen, sagt Florian Rötzer, nicht zuletzt angestoßen durch die Erfahrungen während der Pandemie:
"Die Techniken sind da, und es hat ein bisschen an dem Engagement gefehlt, zum Beispiel in die Telearbeit stärker einzusteigen, was aber jetzt einfach für viele gang und gäbe geworden ist. Da wird sich etwas tun und da werden sich auch Städte und Wohnverhältnisse weiter verändern, wenn wir diese Abkoppelung von Arbeitsort und Wohnung haben."
(fka)

Florian Rötzer: "Sein und Wohnen. Philosophische Streifzüge zur Geschichte und Bedeutung des Wohnens"
Westend Verlag, Frankfurt am Main 2020
288 Seiten, 22 Euro

Außerdem in dieser Ausgabe von Sein und Streit:

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