Weiterführende Literatur:
Hans Ulrich Gumbrecht: "Crowds. Das Stadion als Ritual von Intensität"
Verlag Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 2020
154 Seiten, 14,80 Euro
Das Stadion als Arena der Intensität
38:37 Minuten
Leere Stadien, Kino- und Theatersäle: Das gemeinsame Erleben von Kultur und Sport vermissen viele in der Pandemie besonders schmerzlich. Der Literaturwissenschaftler Hans Ulrich Gumbrecht verfolgt diesen Quell der Intensität bis in die Antike zurück.
Wie wichtig etwas ist, merken wir ja oft erst, wenn es fehlt. Die Hygienemaßnahmen während der Coronapandemie haben persönliche Begegnungen stark eingeschränkt und Veranstaltungen mit Publikum lange Zeit unmöglich gemacht. Plötzlich reden nun alle von "Präsenz": Für den Unterricht sei sie unverzichtbar, für fruchtbaren Dialog von unschätzbarem Wert. Andererseits überlegen viele Unternehmen derzeit, wie viel ihnen Präsenz künftig noch wert ist – und welcher Anteil an Dienstreisen durch Videokonferenzen ersetzt werden könnte.
Der "mystische Körper" des Publikums
Der deutsch-amerikanische Literaturwissenschaftler und Publizist Hans Ulrich Gumbrecht widmet sich seit Langem der Frage, wie sich körperliche Präsenz auf unser Erleben und Denken auswirkt. Ganz besonders gilt sein Interesse Situationen, in denen Menschen in einem großen Publikum zusammenkommen und dabei emotional zu einer Einheit verschmelzen.
Gumbrecht bezeichnet dieses Phänomen mit einem Begriff aus dem frühen Christentum als Entstehung eines "mystischen Körpers". Analog zum "Corpus Christi", der im Sinne der Menschwerdung Gottes eine leibhaftige – also nicht allein im gemeinsamen Glauben begründete, sondern als physisch aufgefasste – Verbindung aller Christen stifte, erzeuge auch die säkulare Gemeinschaft eines Theaterpublikums oder der Fans in einem Fußballstadion einen Zusammenhalt, der nicht nur symbolisch sei, sondern tatsächlich eine andere "Dimension des Erlebens" eröffne, so Gumbrecht.
Dieses Erleben kommt für Gumbrecht in seiner reinsten Form zum Ausdruck, wenn Menschen in einem Stadion von starken Gefühlen ergriffen werden, sodass alle gemeinsam spontan agieren, ohne dass der oder die Einzelne das eigene Verhalten dabei noch bewusst kontrollieren würde. Solche Momente hat der Autor in seinem 2020 erschienen Essay "Crowds. Das Stadion als Ritual von Intensität" beschrieben und analysiert.
Verachtung und Glorifizierung der Masse
Der Titel "Crowds" sei mit Bedacht gewählt, obwohl sein Buch zuerst auf Deutsch erschien, so Gumbrecht, denn der nahe liegende Begriff "Masse" hätte in seinen Augen Missverständnisse provoziert: Von einer in gebildeten Kreisen tief verwurzelten Verachtung der Massen habe er sich ebenso abgrenzen wollen wie von der Glorifizierung des Kollektivs im Staatssozialismus. Indem er Stadien als Orte beschreibe, "die über die Entstehung von Intensität die Entstehung eines mystischen Körpers wahrscheinlich machen", knüpfe er an eine weithin vergessene Traditionslinie der europäischen Kulturgeschichte an.
Seit dem 17. Jahrhundert sei das Menschenbild im westlich orientierten Denken stark auf Rationalität ausgerichtet worden, erklärt Gumbrecht: Man habe "immer mehr ausschließlich auf das Bewusstsein gesetzt und den Körper sozusagen aus der Philosophie eliminiert". Beispielhaft stehe dafür der bekannte Ausspruch des Philosophen René Descartes: "Ich denke, also bin ich." Infolgedessen habe die Philosophie über Präsenz wenig zu sagen gehabt – und ebenso wenig über den Raum.
Nach Edmund Husserls Devise "Zeit ist die Form des Bewusstseins" sei in der europäischen Tradition zwar sehr genau über Zeit nachgedacht worden aber eben nicht über Raum und Körperlichkeit, sagt Gumbrecht: "Das ist tatsächlich beinahe eine Leerstelle in der westlichen Philosophie." Dabei habe das Erleben von Intensität in der Kultur der Antike durchaus eine zentrale Rolle gespielt.
Kultur des Spektakels in Athen und Rom
Anknüpfend an Friedrich Nietzsches Interpretation der antiken Tragödie erinnert Gumbrecht daran, dass die Trauerspiele der griechischen Dramatiker an den religiösen Festtagen zu Ehren des Gottes Dionysos aufgeführt werden. Die rauschhafte Erfahrung, beim gemeinsamen Zuschauen die Grenzen des eigenen Körpers zu überschreiten, nennt Gumbrecht daher "dionysisch".
Im antiken Rom habe sie ihre Entsprechung im Spektakel der Wagenrennen gefunden. "Das größte Stadion aller Zeiten war der Circus Maximus", sagt Gumbrecht. Für 200.000 bis 300.000 Menschen habe die Arena auf den Zuschauerrängen Platz geboten, in einer Stadt mit damals einer Million Einwohnern.
Mit Blick auf diese Vorgeschichte lasse sich feststellen, dass religiöse Feiern und Sportereignisse eine ähnliche Funktion erfüllten. Bis heute sei das zu beobachten, so der Literaturwissenschaftler. Das Stadion von Borussia Dortmund, "kein schönes aber ein charismatisches", wie der bekennende Dortmund-Fan betont, sei bereits mehrfach zum Austragungsort evangelischer Kirchentage geworden.
Vom Zauber eines leeren Stadions
Die Gemeinsamkeit sportlicher, religiöser und kultureller Großereignisse liege in der "Entstehung eines mystischen Körpers über Intensität" – eine Intensität, die man noch eine Weile nach dem Spiel oder dem religiösen Ereignis mit sich trage, "die aber dann langsam verbleicht", und das sei wohl auch gut so, "denn wenn wir uns mit dieser Intensität in unserem Alltag bewegen würden, dann wären wir wahrscheinlich individuell unerträglich".
Er selbst parke deshalb vor dem Besuch eines American-Football-Matchs seinen Wagen stets eine halbe Stunde Fußweg vom Stadion entfernt, um sicherzugehen, dass er sich nach dem Spiel "ausgenüchtert" wieder ans Steuer setze.
Während der bald 18 Monate währenden Coronapandemie auf Besuche im Stadion zu verzichten, sei ihm nicht leichtgefallen, erzählt Hans Ulrich Gumbrecht. Andererseits habe er in dieser Zeit den Zauber leerer Stadien für sich entdeckt. Im Stadion des argentinischen Vereins Boca Junios in Buenos Aires habe er eine Nacht allein verbringen dürfen, dabei habe er die Magie des Ortes gespürt und von mitreißenden Spielen geträumt.
Mehr Wertschätzung für gemeinsames Erleben
Werden wir nach der Pandemie wieder intensive Gemeinschaftserlebnisse genießen, wie es zurzeit viele Menschen herbeisehnen, oder wird sich die Entwicklung noch beschleunigen, dass wir in Arbeit und Freizeit immer mehr Kontakte auf den Bildschirm verlegen? Hans Ulrich Gumbrecht sieht beide Trends miteinander verbunden:
"Ich könnte mir vorstellen, dass auf der einen Seite unser Alltag mit weniger Präsenz rechnen wird als bisher, dass aber auf der anderen Seite Rituale von Intensität – Stadien-Rituale, Theater, Rock-Konzerte aber auch zum Beispiel gemeinsame Messen, 100.000 Leute sind zusammen, wenn der Papst irgendwo eine Messe hält –, dass solche Ereignisse gezielt mehr eingesetzt werden. Das zumindest wäre meine Hoffnung."
(fka)
Außerdem in dieser Ausgabe von Sein und Streit:
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