Deutschlands bekanntester Denker
Stammzellenforschung, NATO-Einsatz, Bankenkrise – die Zahl der Themen, zu denen sich Jürgen Habermas im Laufe der Jahrzehnte zu Wort gemeldet hat, ist hoch. Als der bedeutendste lebende Philosoph Deutschlands wird er bezeichnet und zugleich als bekanntester Intellektueller.
Anfang des Jahres redete Habermas unter anderem der SPD-Spitze zur Europapolitik der Bundesregierung ins Gewissen. Er kritisierte sie als "eine strikt anlegerfreundliche Politik". "Um den Preis der politischen Entwürdigung ganzer Völker" und des sozialen Absturzes werde alles dafür getan, dass Investoren wieder zurückkehren.
Habermas ruht offenbar nie. 2011 veröffentlichte er ein Essay "Zur Verfassung Europas", in dem er neue Verfahren europäischer Rechtsetzung vorschlägt. Drei Jahre zuvor sah er in "Ach, Europa" die Bedeutung des Kontinents vor allem als globales Korrektiv zu den Hegemoniebestrebungen der USA und Chinas. 2006 schrieb er zusammen mit Joseph Ratzinger "Über Vernunft und Religion".
Soziales Handeln erst durch Sprache möglich
Am bekanntesten ist aber sein Hauptwerk "Theorie des kommunikativen Handelns" (1981), eine Art Handlungsleitfaden für die moderne Gesellschaft. Seine Theorie: Die Norm setzenden Grundlagen einer Gesellschaft liegen in der Sprache. Soziales Handeln sei erst durch sie möglich.
Der Kommunikation hat er sich in all den Jahrzehnten ständig bedient, vor allem der schriftlichen. Auch, weil er aufgrund seiner Hasenscharte Schwierigkeiten beim Sprechen hatte, wie sein Biograf Stephan Müller-Doohm auf Deutschlandradio Kultur sagte. Die Sprachbehinderung sei für Habermas einer der Auslöser gewesen, sich mit Kommunikation zu beschäftigen.
800 Seiten umfasst die in dieser Woche erschienene Biografie, in der Müller-Doohm durchaus auch Brüche im Leben Habermas feststellt, obwohl dieser immer betont, sein Leben sei "unheroisch" verlaufen. Als Habermas zum Beispiel Ende der 1950er Jahre Assistent am Institut für Sozialforschung in Frankfurt wurde, sei er mit Max Horkheimer, dem führenden Kopf der sogenannten Frankfurter Schule, nicht klargekommen. "Horkheimer wollte ihn nicht habilitieren." Dafür habe er nach Marburg wechseln müssen.
Habermas wurde bekannt während der 68er-Studentenbewegung, zu deren geistigen Anregern er gehörte. Aber schon bald gingen die radikalen Studenten und er auf Distanz. Die Ansichten von Rudi Dutschke bezeichnete er als "linken Faschismus", was er später bedauerte. Ein Höhepunkt der Konfrontation zwischen Habermas und den Studenten war die Besetzung des Soziologischen Seminars der Universität Frankfurt, das Habermas mitleitete.
"Der Ruhm ist ihm nicht so in den Kopf gestiegen"
Seit dem Ende der 90er Jahre standen für den Philosophen verstärkt religiöse Fragen im Vordergrund, vor allem der Einfluss der jüdisch-christlichen Tradition auf das westliche Denken. Seine Werke wurden in über 30 Sprachen übersetzt. 2001 wurde Habermas mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet.
Für Aufregung dagegen sorgte eine 2006 erschienene Autobiografie von Joachim Fest. Fest bezeichnete Habermas, ohne ihn namentlich zu erwähnen, als einen tief im NS-Regime verwurzelten Führer der Hitlerjugend. Der Vorwurf entpuppte sich später als haltlos, der Rowohlt-Verlag musste die Passage in Fests Buch wegen übler Nachrede streichen.
Zu seinem 85. Geburtstag spielt diese Episode allerdings keine Rolle mehr. Philosoph Jürgen Wingert, einer der längsten wissenschaftlichen Weggefährten von Habermas, würdigt den Jubilar als bescheiden. "Der Ruhm ist ihm nicht so in den Kopf gestiegen", sagte Wingert im Deutschlandradio Kultur.
ske