Stefan Müller-Doohm: Jürgen Habermas. Eine Biografie.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2014
784 Seiten, 29,95 Euro
Ein intellektuelles Schwergewicht
Der Philosoph Jürgen Habermas ist einer der berühmtesten deutschen Intellektuellen. In einer Biografie will sich der Soziologe Stefan Müller-Doohm dem 85-Jährigen nähern. Doch sein Buch bleibt kleinmütig und uninspiriert.
Keine Frage, Jürgen Habermas ist einer der berühmtesten lebenden Philosophen und vielleicht einer der letzten klassischen Intellektuellen. Einer, der sich seit Jahrzehnten in nahezu alle politischen Großdebatten einschaltet und auch mit 85 noch kein bisschen leise ist. Keine leichte Aufgabe, die Biografie eines solchen Mannes zu schreiben: Wie soll man dem umfangreichen und komplexen Werk und Wirken gerecht werden und wie nähert man sich jemandem, der inzwischen so etwas wie den globalen Status einer linksliberalen Ikone erreicht hat? Stefan Müller-Doohm, Soziologe aus Oldenburg und einst selbst Student bei Habermas, hat es gewagt. Aber ganz wohl war ihm dabei anscheinend nicht:
"Wie auch immer der Biograf seine Akzente setzt, er macht sich einer Anmaßung schuldig. Zu ihr muss er sich bekennen. Denn zum biografischen Schreiben gehört notwendigerweise ein Moment von Indiskretion, ja, man könnte die biografische Recherche sogar als einen feindseligen Akt bezeichnen."
Habermas, so heißt es, soll sich ein wenig gefürchtet haben vor dieser Biografie. Dazu besteht allerdings kein Grund. Denn Müller-Doohm präsentiert sich ganz als "His Master's Voice". Beflissen und akribisch, aber weitgehend frei von Deutungen dokumentiert er auf knapp 600 Seiten den Werdegang Habermas von der Geburt 1929 bis heute. Entsprechend kleinmütig und uninspiriert wirkt die Biografie.
Missglückter Start der akademischen Karriere
Dennoch bietet das Buch manch Interessantes. Zum Beispiel indem sie an den schleppenden Start von Habermas' akademischer Karriere erinnert, den man sich angesichts des heutigen Glorienscheins um den Philosophen gar nicht mehr so recht vorstellen kann. Doch als Habermas 1954 seine Promotion beendet hatte, fand er zunächst keine Stelle an einer Universität, sondern schlug sich als freier Journalist und mit einem Stipendium der Deutschen Forschungsgemeinschaft durch. Erst 1956 glückte ihm der Sprung in die Hochschulkarriere, als er Assistent von Theodor W. Adorno am Frankfurter Institut für Sozialforschung wurde. Auch sonst schlug Habermas Widerstand entgegen, etwa als 1981 sein philosophisches Hauptwerk "Die Theorie des kommunikativen Handelns" erschien:
"Die öffentliche Resonanz auf das Opus Magnum lässt zwar nicht lange auf sich warten, aber die ersten Reaktionen sind nicht gerade euphorisch. Manche Rezensenten behaupten schlicht, nicht zu verstehen, worum es in dem Buch überhaupt geht, andere bemängeln all das, was fehlt, und wieder andere fragen sich, wo 'Habermas als Person' in den beiden Bänden zu finden sei. Besprechungen tragen Überschriften wie 'Ein Wahn wird wahr' oder 'Nouvelle Cuisine der Theorie'."
In der "Theorie des kommunikativen Handelns" entwickelt Habermas die Grundzüge seiner Philosophie einer auf intersubjektiver Rationalität basierenden Gesellschaft. Vernunft ist darin nicht länger ein Wesensmerkmal des einzelnen Menschen, sondern Vernunft entsteht im Kommunikationsprozess, der darauf abzielt, einen Konsens zu finden. Einerseits ein hehres Modell, getragen vom Glauben an eine emanzipierte Bürgergesellschaft und an die Kraft des besseren Arguments. Andererseits auch etwas blutleer, weil sich fast alles nur noch um Verfahrensfragen dreht. Müller-Doohm zitiert dazu den FAZ-Redakteur Jürgen Busche, der in seiner Rezension schrieb:
"Der Metaphysik entkommt man nicht, in dem man vermeidet, von ihr zu sprechen."
Habermas' Wirkung in der Öffentlichkeit
Müller-Doohm scheint für seine Recherche hauptsächlich auf ein Pressearchiv zurückgegriffen zu haben. Jedenfalls präsentiert er ausschließlich die Reaktionen der Feuilletons. Was Philosophenkollegen von Niklas Luhmann über François Lyotard bis Richard Rorty zur "Theorie des kommunikativen Handelns" zu sagen hatten, ignoriert er dagegen weitgehend. Es geht Müller-Doohm wohl vor allem um die Wirkung, die Habermas auf den Diskurs einer breiteren Öffentlichkeit hatte. Dort war Habermas seit seiner Zeit als freier Journalist in den 50er-Jahren sehr präsent.
"Gerade in den ideenpolitischen Positionskämpfen zwischen dem linksliberalen und dem liberalkonservativen Lager zieht Habermas alle Register der Rhetorik, um sich in den Rivalitäten um die Deutungshoheit mit seiner eigenen Sichtweise durchzusetzen."
Ob es um die Studentenbewegung der 60er-Jahre geht, der er "linken Faschismus" vorwirft, um die Asyldebatte, um bioethische Fragen, den sogenannten Historikerstreit – Habermas ist dabei. In den letzten Jahren liegt ihm vor allem die Demokratisierung der Europäischen Union am Herzen, von Müller-Doohm ausführlich dokumentiert.
Das Bemerkenswerteste an dieser Biografie ist jedoch, dass man darin über den Menschen Habermas so gut wie nichts erfährt. Besonders Habermas’ Privatleben scheint für Stefan Müller-Doohm geradezu ein Tabu zu sein, und wenn es sich dann doch einmal nicht vermeiden lässt, darüber zu sprechen, wechselt er in eine Art Amtsstubenjargon:
"Schon während der ersten Semester an der Bonner Universität hatte Jürgen Habermas seine am 6. Februar 1930 in Ratingen geborene spätere Frau Ute kennengelernt, die dort Geschichte und Germanistik studierte. Sie begegneten sich, Ute Wesselhoeft war im dritten Semester, in den Lehrveranstaltungen des Historikers Richard Nürnberger. Weibliche Studierende waren zu dieser Zeit relativ selten anzutreffen. Die männlichen Kommilitonen machten der Studentin den Hof, darunter auch Habermas, der sie zum Kinobesuch einlud. Aber erst während einer Studienfahrt aus Anlass eines bundesweiten Treffens universitärer Theatergruppen freundeten sich die beiden intensiver an. Sie teilten das Interesse für moderne Kunst, für den Film und die Literatur und verfolgten aufmerksam das politische Tagesgeschehen. Am 30. Juli 1955 fand in Bonn die Hochzeit statt."
Viel mehr erfährt man nicht über die Frühphase der Beziehung zwischen Jürgen und Ute Habermas, und das ist zu wenig für eine Biografie. Auch für eine, deren Autor sich auf die Fahnen geschrieben hat, keine rein individualbiografischer Perspektive einnehmen zu wollen. So bleibt es letztlich bei einer interessanten Materialsammlung, die vieles dokumentiert, wenig erklärt und an keiner Stelle erzählerische Kraft entwickelt. Vielleicht würde die Enttäuschung über das Buch kleiner ausfallen, hätte man den Titel geringfügig modifiziert: Statt "Jürgen Habermas. Eine Biographie" hätte es besser heißen sollen: "Jürgen Habermas. Keine Biografie".