Kopieren als Kulturtechnik
Der Philosoph Reinold Schmücker plädiert für mehr Gelassenheit bei der Debatte über das Kopieren. Schließlich lerne der Mensch durch Kopieren, auch Fremdsprachen oder Kochen.
Dieter Kassel: Seit es Menschen gibt, haben die einen etwas erfunden, und die anderen haben es ihnen nachgemacht. Seit es aber das Internet gibt und man dort alles verlustfrei kopieren und kostenlos runterladen kann, scheint diese Methode zum Problem geworden zu sein. Ein Problem, das man mit Mitteln des Rechts allein nicht lösen kann, weshalb sich in dieser Woche verschiedenste Wissenschaftler am Zentrum für interdisziplinäre Forschung der Uni Bielefeld getroffen haben und es heute auch immer noch tun, es ist noch nicht vorbei, um nach einer "Ethik des Kopierens" zu suchen, und zwar unter der Leitung des Philosophen Reinold Schmücker. Guten Morgen, Herr Schmücker!
Reinold Schmücker: Guten Morgen, Herr Kassel!
Kassel: Ist Kopieren grundsätzlich etwas Böses und gehört verboten?
Schmücker: Nein, natürlich nicht. Sonst wäre niemand von uns da, wo er heute wäre, beruflich oder auch sonst im Leben, denn Kopieren ist eine menschliche Kulturtätigkeit der größten Wichtigkeit und allerersten Güte.
Ich meine, wir lernen durch Kopieren. Jeder, der mal Fremdsprachen gelernt hat, und weiß, dass man die Aussprache von einem Native Speaker natürlich versucht, möglichst zu kopieren, weiß, dass jeder, der Tätigkeiten nachmacht im Alltag, um zum Beispiel ein gutes Gericht zu kochen und so, und sich das bei anderen abguckt – das ist unsere tägliche Praxis, wir kommen gar nicht ohne aus.
"Das Problem wird sich noch einmal potenzieren"
Kassel: Aber wenn ich zum Beispiel einem Native Speaker, einem Muttersprachler zuhöre und den versuche zu kopieren, werde ich in der Regel nicht genauso klingen wie er. Auch das nachgekochte Essen wird in der Regel nicht identisch sein. Ist das vielleicht die Crux, dass eine Kopie dann was Kritisches ist, wenn es eine exakte Eins-zu-Eins-Kopie ist?
Schmücker: Ich denke, auch dann muss man natürlich überlegen, was sind das für Kopien, wozu sind die da. Aber Sie haben recht – heute ist es, insbesondere natürlich durch die digitalen Medientechnologien möglich, mit bisher eigentlich ungekannter Mühelosigkeit Eins-zu-Eins-Kopien zu erstellen. Das kann fast jedermann.
Die einzige Beschränkung, dem das sozusagen noch unterliegt heute, ist ja im Grunde die Verfügbarkeit entsprechender technischer Mittel, und wenn wir demnächst alle zu Hause einen 3-D-Drucker haben, wird sich das Problem noch einmal potenzieren. Insofern ist das Thema auch nicht nur besonders dringlich, sondern ich glaube, es wird noch aktueller, als es heute ist.
Und auf der anderen Seite, und das wird heute ganz leicht übersehen, auch wenn jetzt diese Fälle der Aufdeckung von Plagiaten in Politikerdissertationen eigentlich deutlich machen, dass dies ein wichtiger Punkt ist. Durch die digitalen Medientechnologien ist es heute auch viel, viel leichter geworden, Übereinstimmung – und damit meine ich nicht nur Eins-zu-Eins-Kopien, sondern auch Übernahmen – zu detektieren, also aufzudecken. Und das war vorher in dem Maße nicht möglich. Das bedeutet aber natürlich auch, wenn die häufiger aufgedeckt werden können oder viel einfacher oder mit der gleichen Mühelosigkeit, mit der sie erzeugt werden können, auch aufgedeckt werden können, dann werden sie häufiger aufgedeckt, und dann haben auch die Inhaber von Urheberrechten viel häufiger die Gelegenheit, die Möglichkeit, solche Urheberrechtsverstöße verfolgen zu lassen.
Und damit wird dann natürlich die, sagen wir mal, die Restriktivität unseres Urheberrechts in manchen Bereichen zum Problem. Wir haben gestern Abend einen sehr bekannten DJ, Hans Nieswandt, den Hörern in Nordrhein-Westfalen vielleicht aus "Eins Live" bekannt, mal dabei gehabt und ihn vorführen lassen, was es denn alles so für Möglichkeiten gibt, gegen das Urheberrecht zu verstoßen, indem man Edits macht, indem man Bootlegs macht, indem man Mash-Ups macht. Und das war für alle, die jetzt nicht direkt aus der Musik kommen, glaube ich, ein sehr lehrreicher Abend.
"Wir wissen einfach nicht alles, was dem vorhergeht"
Kassel: Aber gerade aus der Musik kann man ja eine Frage ableiten, nämlich – Sie haben einen Begriff jetzt möglicherweise noch nicht benutzt, nämlich den Begriff des geistigen Eigentums. Aber die Frage, die sich mir stellt: Wenn jemand Musik macht, selbst, wenn er komponiert, nicht nur Samples macht. Es wird ja niemand Popmusik machen, der in seinem ganzen Leben noch nie einen Popsong gehört hat, und ich glaube, das kann man auf andere Bereiche erweitern.
Kann ich heutzutage als Mensch eigentlich noch irgendwas kreieren, erfinden, was wirklich hundert Prozent meines ist?
Schmücker: Ich glaube, das konnten Sie noch nie. Da hätten Sie auch vor 2000 Jahren leben können. Irgendwas – wir wissen vielleicht vieles, was es da vorher gab und was kopiert wurde, damit das zustande kam, was wir heute als die Kulturleistung, sagen wir mal, der griechischen Antike ansehen.
Wir wissen einfach nicht alles, was dem vorhergeht, deswegen können wir diese Kopierprozesse nicht so transparent nachzeichnen. Aber sie hat es mit Sicherheit gegeben.
Kassel: Aber was heißt denn das nun auch für rechtliche Fragen, darum ging es ja auch bei Ihnen. Kann man denn einfach sagen, wenn ich jetzt zum Beispiel ein Stück komponiere, na ja, aber der Kassel hat vorher auch schon Mozart gehört, also müssen wir ihm für sein Stück kein Geld zahlen?
Schmücker: Ja, das ist natürlich die Frage, wie weit die Tatsache, dass jeder auf den Füßen von anderen (...) und durch Kopieren seine Werke geschaffen hat, dann vielleicht auch die Verpflichtung einfließt, in einem gewissen Umfang diese anderen zugänglich zu machen. Und das war interessant: Hans Nieswandt hat uns gestern deutlich gemacht, dass es in der DJ-Szene bereits in bestimmten Bereichen etwas gibt wie eine, vielleicht nicht von allen akzeptierte, aber doch von den meisten akzeptierte Ethik der Szene, so in dem Sinne. Und zu dem gehört, glaube ich, nach dem, was ich wahrgenommen habe, auch, dass man sagt, okay, wenn ich mit bestimmten Musikformen arbeite, dann heißt das natürlich auch, wenn andere das mit meinen Songs tun, ich das nicht in dem Sinne verfolgen lasse oder von denen Tantiemen bekommen will, außer vielleicht, wenn die damit in anderer Weise umgehen und Profit machen als ich.
Und das fand ich schon auch interessant, dass es da so sektorenspezifische Ansätze zu Übereinkünften gibt, die sich vom Urheberrecht unterscheiden.
"Die Musikindustrie ist noch nicht ganz so weit"
Kassel: Das kann ich verstehen. Aber das ist ja nicht analog auf alles anwendbar. Ich frage mich auch manchmal, was bedeutet die berühmte normative Kraft des Faktischen da, wenn wir jetzt Menschen haben, die im Moment damit aufwachsen, dass sie ganze Kinofilme, dass sei Bücher, dass sie vieles kostenlos aus dem Internet runterladen – kann man denen in Ihren Augen je noch irgendeine Ethik beibringen, die ihnen klar macht, so was kann gar nicht komplett kostenlos sein?
Schmücker: Na gut, ich meine, faktisch ist es ja so, dass heute schon viele Anbieter solcher Inhalte darüber nachdenken, wie man das anders machen kann, wie man nämlich das Geld nicht von denen, die sich die Inhalte aus dem Netz herunterladen, nimmt, sondern von denen, die sie hineinstellen.
Das ist mit Wissenschaftlern leichter zu machen. Die haben auch noch einen Geldgeber im Hintergrund, nämlich die Steuerkasse oder die öffentliche Hand oder eine private Universität, von der man das Geld vielleicht nehmen kann. Und mit so begehrten Gütern wie Popsongs, da bietet es sich noch nicht so an, und die Musikindustrie ist noch nicht ganz so weit, sag ich mal, aber das ist natürlich denkbar, dass auch solche Modelle erprobt werden. Dazu gehört, dass stärkerer Kopierschutz erprobt wird, auch das gibt es ja heute.
Und Sie müssen sehen, dass, ich glaube, auch technisch ist das Kräftegleichgewicht da durchaus gegeben. Wenn Sie daran denken, wie etwas der Anbieter eines Kindle-Lesegeräts seine Inhalte nach bestimmter Zeit für die Nutzer, die sie gekauft haben, sperrt. Also, da muss man gucken. Ich denke mal, Menschen ändern sich, wir alle werden älter und Generationen werden älter. Wenn es überzeugende Regelungen gäbe, die allen einleuchten würden, dann hätten wir sicherlich in dieser Hinsicht in einigen, vielleicht in einigen Jahrzehnten, eine stärkere Deckungsgleichheit von positivem Recht und dem, sagen wir mal, moralischem Bewusstsein von Leuten, die Kopien anfertigen oder es auch eben lassen.
Kassel: Der Philosoph Reinold Schmücker über die Ethik des Kopierens. Er leitet in dieser Woche eine interdisziplinäre Fachtagung, die genau unter diesem Titel an der Uni Bielefeld stattfindet. Vielen Dank, Herr Schmücker!
Schmücker: Vielen Dank, Herr Kassel!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.