"Nietzsche war ein politisch unkorrekter Denker"
Für das politische Tagesgeschäft tauge die Philosophie Friedrich Nietzsches nicht, sagt der Nietzsche-Kenner Andreas Urs Sommer. Doch von dem politisch unkorrekten Denker könne man lernen, eigene Werte in Frage zu stellen.
Korbinian Frenzel: Das mit dem toten Gott, das kennt man, "Gott ist tot". Friedrich Nietzsche, der deutsche Philosoph, hat ganzen Generationen von Nihilisten und auch von jenen, die sich darin im Aufbrausen in Teenagertagen zumindest mal geübt haben, eine Blaupause geliefert und natürlich noch viel mehr als das.
Sonst gäbe es nicht die Veranstaltung, zu der heute Nietzsche-Kenner aus der ganzen Welt zusammenkommen in Naumburg an der Saale. Ein internationaler Kongress, bei dem der Mann, der den Nietzsche-Preis des Landes Sachsen-Anhalt trägt, natürlich nicht fehlt. Jetzt reden wir mit ihm, Andreas Urs Sommer, der Direktor der Friedrich-Nietzsche-Stiftung. Guten Morgen!
Andreas Urs Sommer: Guten Morgen, Herr Frenzel!
Frenzel: Vor 114 Jahren ist Nietzsche gestorben. Erlauben Sie mir die kleine große Frage zum Auftakt: Warum sollte er uns heute außerhalb des Seminarraums noch interessieren?
Sommer: Er ist ein Philosoph, der durch seine Irritationskraft noch immer irritiert und eben die Leute fasziniert. Wenn Sie Nietzsche lesen, dann sind Sie nicht versetzt in den Seminarraum, sondern Sie sind in unendliche Weiten und unendliche Höhen katapultiert.
Und das ist ein Sog, dem man sich auch heute als Leserin oder Leser nur noch schwer entziehen. Wenn Sie ein Nietzsche-Seminar anbieten, haben Sie die Bude normalerweise voll, aber auch wenn Sie auf der Straße jemanden nach Nietzsche fragen, hat sie oder er dann doch eine Idee zu diesem Philosophen. Er ist ein Philosoph, der sich erstaunlich frisch gehalten hat, weil er ein so großes Irritationspotenzial besitzt.
"Man hat das Irritatorische bei ihm ausgeklammert"
Frenzel: Ist es die Irritation alleine?
Sommer: Es war lange Zeit nicht die Irritation, lange Zeit, also in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts insbesondere, hat er als Antwortgeber, als Stichwortgeber für Ideologien auch funktioniert. Man hat bei Nietzsche gehofft, in einer Welt, die unübersichtlich geworden ist, letzte Antworten zu finden. Man hat das Irritatorische bei ihm ausgeklammert und dann über Wille zur Macht und Übermensch und all diese großen Worte viel gesagt, aber eigentlich an Nietzsche vorbeigeredet.
Man hat Nietzsche in unterschiedlichen Zeitkontexten auch immer wieder neu und anders interpretiert. Man hat bei ihm auch lange Zeit Antworten gesucht, die man letztlich doch bei ihm nicht finden kann. Ich denke, heute ist diese Irritationskraft das, was uns an ihm, was viele an ihm am meisten fasziniert, und nicht mehr die Antworten, die er lange Zeit gegeben zu haben schien, die aber auch uns heute nicht mehr so richtig befriedigen. Mit Wille zur Macht oder mit Übermensch können heutige Leserinnen und Leser nicht mehr so furchtbar viel anfangen.
Frenzel: Ich habe in der Vorbereitung von meiner Redaktion gelernt, dass es in China und auch in Südamerika geradezu einen Nietzsche-Boom gibt. Wie erklären Sie sich das denn?
Sommer: Das ist ganz richtig. Vielleicht hat das damit zu tun, dass man die lebenspraktische Relevanz von Philosophie in Übersee oder auch der ganzen Welt neu zu entdecken im Begriff ist, dass man von sterilen Begriffen der Philosophie als eine Begriffsarbeit abkommt. Und Nietzsches Philosophie ist da eine, die unmittelbar lebensweltliche Relevanz zu haben beansprucht. Ob sie es dann hat, das ist noch eine andere Frage, aber es ist ganz klar, dass Nietzsche ein Philosoph ist, der anders wirkt als die üblichen Schulphilosophien.
Er ist kein systematischer Denker. Und diese Faszination ist übergeschwappt, wenn man so will, auf andere Kontinente. Nietzsche scheint intellektuelle Alternativen zu bieten, und es ist auch merkwürdig zu sehen, dass wir heutzutage viel mehr Nietzsche-Aktivität, Forschungsaktivität feststellen können in Übersee als mitunter in Europa und insbesondere in Deutschland, wo man Nietzsche gerade im akademischen Kontext immer noch mit vielen Vorbehalten gegenübersteht.
Frenzel: Heute würde man wahrscheinlich über Nietzsche sagen, dass er politisch durch und durch inkorrekt war. Das ist ein Label, das kriegen eigentlich heutzutage Leute so vom Schlage Geert Wilders, Bernd Lucke. Das ist keine besonders schöne Gesellschaft für einen Nietzsche, oder?
Sommer: Gut, er muss nicht Angst haben, in die Ecke der Populisten und der Einfachmacher gedrängt zu werden. Zwar finden Sie bei Nietzsche auch viele Vereinfachung ...
Frenzel: Aber in die Ecke der Provokateure doch, oder?
Sommer: Absolut, in die Ecke der Provokateure auf jeden Fall. Und die Frage ist, wie Sie mit den Provokationen umgehen. Sie haben vollkommen recht, dass Sie ihn als politisch unkorrekten Denker beschreiben, in gewisser Weise ist das auch ein Denker, der dadurch natürlich wirkt. Wenn man sich in gewisser Weise hinter seiner politisch unkorrekten Maske selber verbergen kann, man traut sich dann selber nicht, politisch Unkorrektes zu sagen, sondern sagt, na ja, Nietzsche hat eben dieses oder jenes gesagt.
Er stellt Selbstverständlichkeiten infrage, ganz fundamentale politische Selbstverständlichkeiten, etwa die Gleichheitsvorstellung, die wir vom Menschen haben, er stellt die Werte der Französischen Revolution und auch der Aufklärung, die dieser Revolution vorangeht, infrage. Man müsste schon versuchen, diese Werte gegen Nietzsche zu verteidigen, was nicht immer so ganz leichtfällt.
Die Fragen, die Nietzsche politisch unkorrekt stellt, sind ganz grundsätzliche Fragen, und das macht natürlich auch seine, wie soll ich sagen, mit Schatten belegte Irritationskraft und Provokationskraft aus. Er ist sicher kein Philosoph, bei dem wir uns irgendwie Rezepte fürs politische Tagesgeschäft holen können, aber er ist ein Philosoph, von dem wir lernen können, unsere eigenen Werte und Selbstverständlichkeiten hinterfragen zu lassen.
Frenzel: Die Frage ist ja, und Sie haben sie selbst aufgegriffen in der Festrede, als Sie den Nietzsche-Preis bekommen: Warum ist Philosophie heute, wenn man es vergleicht mit dem, was Sie gerade beschrieben haben, so mutlos?
"Nietzsche als Kritiker und Denker"
Sommer: Ich will nicht sagen, dass Philosophie generell so mutlos ist. Aber die Mutlosigkeit drückt sich da aus, wo Philosophie als rein akademische Veranstaltung daherkommt, wo sie sich sozusagen als eine Wissenschaft unter anderen Wissenschaften geriert und das Querdenken nicht mehr wagt. Das hat institutionelle Gründe, da die Universität gehegt und gepflegt im universitären Kontext wird, da muss sie sich sozusagen als Wissenschaft aufführen, aber auch im populären Kontext gilt das zumindest in einer gewissen Weise.
Philosophie soll dann da einfach eine Art von Lebensberatung sein, der philosophische Briefkastenonkel, die philosophische Briefkastentante ist in den Gazetten und in den Medien ein beliebter Auftritt. Aber Philosophie ist sehr viel stärker als wir das gewöhnlich wahrhaben wollen. Auch das Drängen ins Unbekannte, ins noch nicht Gedachte hin. Und das lässt sich dann nicht so einfach einhegen. Das Wagnis muss sozusagen immer wieder reaktiviert werden, das Philosophie darstellt.
Frenzel: Ich zitiere Sie da mal aus dieser Rede, da sagen Sie: Philosophie ist seit 1945 weithin Philosophieverwaltungswissenschaft. Sie verwaltet die intellektuellen Wagnisse vergangener Tage. Herr Sommer, Sie treffen sich ja ab heute mit Ihren Nietzsche-Freunden in der Wissenschaft. Zum Verwalten? Oder werden Sie im besten Sinne etwas fragen?
Sommer: Wir hoffen natürlich bei dieser Tagung, die sich Nietzsche als Kritiker und Denker der Transformation widmen wird, eben sehr viel mehr als nur Verwaltung zu machen. Aber andererseits ist auch Nietzsche-Arbeit historisch-kritischer Art notwendig, es ist ein Denker, der sehr stark in seiner eigenen Zeit ist, ein Denker, der in seinem historischen Kontext verstanden werden muss.
Ein Teil der Nietzsche-Forschung geht in diese Richtung. Also, man schreibt beispielsweise Nietzsche-Kommentare, um zu verstehen, in welche Zeitumstände Nietzsche selber hineinphilosophiert hat. Andererseits aber, und das ist gerade auch die Aufgabe eines solchen Kongresses, soll eben Nietzsche dazu dienen, aus dem reinen Philosophieverwaltungswissenschaftlichen hinauszukommen und hinauszuweisen, eben Denkanregungen zu geben, die uns heute im 21. Jahrhundert in die eine oder andere Richtung nicht nur provozieren können, sondern vielleicht auch in die eine oder andere Richtung weisen können. Lenken würde ich nicht sagen und führen auch nicht.
Frenzel: Kriegt man das so wunderbar auf einen Satz wie "Gott ist tot"?
Sommer: Philosophie muss Wagnis sein!
Frenzel: Die Aussage nehmen wir von Andreas Urs Sommer, er ist Leiter der Forschungsstelle Nietzsche-Kommentar der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophieprofessor in Freiburg und der Direktor der Friedrich-Nietzsche-Stiftung in Naumburg, die ab heute zu Ehren des Philosophen einen internationalen Kongress veranstaltet. Ich danke Ihnen herzlich!
Sommer: Ich danke Ihnen, Herr Frenzel, für das Gespräch!
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