Ralf Konersmann: "Welt ohne Maß"
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2021
320 Seiten, 26 Euro
Schwindendes Vertrauen in die Ordnung der Welt
36:43 Minuten
Überhitzter Konsum, ökologische Krise, politische Extreme – hat unsere Zeit jedes Maß verloren? Der Philosoph Ralf Konersmann erinnert daran, wie eng das Messen und die Moral einmal verbunden waren. Das Ende dieser Allianz habe fatale Folgen.
Zahlen, Daten und Bilanzen beherrschen die Nachrichten. Das gilt nicht erst, seitdem der tägliche Corona-Inzidenzwert als Bezugspunkt für politische Entscheidungen dient. Das Prinzip, das dem zugrunde liegt, ist typisch für unsere Zeit: Wissenschaftliche Studien sollen ermitteln, wie unsere Lebensbedingungen sich darstellen und verändern, und daraus konkrete Verhaltensempfehlungen ableiten. Ihre Messergebnisse werden zum Maßstab unseres Handelns.
Zwischen Mäßigung und Maßlosigkeit
Dass das richtige Maß schon immer eine wichtige Orientierungsgröße war, lässt bereits die Sprache erahnen. Zwischen "Maßnehmen" und "Maßhalten" scheint es einen Zusammenhang zu geben, der gewisse Kipp-Punkte mit sich bringt: Der Glaube, alles vermessen zu können, kann in Vermessenheit umschlagen. Wer sich nicht zu mäßigen versteht, verfällt in Maßlosigkeit.
Die damit angedeutete Verbindung von Maß und Moral sei im europäischen Denken tief verankert, sagt der Kulturphilosoph Ralf Konersmann. Doch mittlerweile drohe sie in Vergessenheit zu geraten. Existenzielle Krisen der Gegenwart scheinen das zu bestätigen: Die Zerstörung von Ökosystemen schreitet rasant voran.
Fehlt uns ein verlässlicher Maßstab für den Platz des Menschen im Zusammenhang der Natur? Die politische und gesellschaftliche Polarisierung reißt immer tiefere Gräben. Haben wir auch auf diesem Feld das Maß dafür verloren, was zu weit geht?
Maßstäbe für Mathematik und Moral
Im Denken der Antike hatte das Maß die Aufgabe, "zwischen der Welt des Kosmos, der Natur, und der Welt des Menschen zu vermitteln", erklärt Konersmann. "Das Maß ist sozusagen der Teil der Welt, der uns als Menschen zugewandt ist: Dass wir in dieser Welt als Menschen zurechtkommen und in beschränktem Maße auch diese Welt gestalten können, liegt daran, dass die Welt ein Maß hat."
Die antike Philosophie habe daran die Überzeugung geknüpft, "dass wir Menschen Grund haben, der Welt und ihrer Ordnung zu vertrauen." Und das galt nach dieser Auffassung nicht nur für mathematische Messgrößen und Ordnungsverhältnisse, auf die zum Beispiel Architekten buchstäblich bauen konnten.
In der Vorstellung vieler antiker Philosophen hatte das Maß auch "eine sittliche Dimension", so Konersmann: "Das heißt, es gibt im Verhalten, im Auftreten, im Handeln – auch sogar im Denken – ein Maß, das auch wiederum der Welt angemessen ist, also den Problemen, die uns die Welt stellt."
Ein neuer Hüter der Weltordnung
Diese Verankerung der Moral im Maß der Dinge hat sich im Lauf der Geschichte Schritt für Schritt gelockert, wie Ralf Konersmann in seinem Buch "Welt ohne Maß" aufzeigt. In einem ersten Schritt sei die Autorität, die für das richtige Maß einsteht, auf eine andere Sphäre übergegangen:
"Im Mittelalter wandert diese Funktion zu einem Gott, der als Hüter des Maßes auftritt, und die Bibel, das Buch der Weisheit, beschreibt diesen Gott als den, der Maß und Gewicht in die Welt gebracht hat."
In der frühen Neuzeit komme es dann zu einer zunehmenden Verselbständigung des Messens und seiner Maßstäbe, "weil die beiden großen Garanten, die Weltordnung und der Weltschöpfer, nun zusehends verblassen und die Quantifizierung rein als solche hervortritt."
Verselbständigung von Maß und Zahl
Allen voran die Philosophen Francis Bacon und René Descartes lösten das quantifizierende Denken nun vollends von der Sittlichkeit los, so Konersmann, und trieben so die Emanzipation der messenden Wissenschaft voran:
"Das ist eine massive Veränderung des Weltbildes, weil die Dinge eben nicht mehr mit dem Maß verbunden werden, sondern die Messgrößen werden an die Dinge herangetragen. In diesem Augenblick werden die Dinge zu Objekten, zu Gegenständen. Und diese Praxis haben wir bis heute."
Die Folge sei einerseits eine Verselbständigung messender Forschung und Technologie, die keine Begrenzung durch ein vorgegebenes Maß mehr kenne, betont Konersmann: "Es gibt dort grundsätzlich keine Grenze, die sich nicht wiederum als Herausforderung für künftige Generationen formulieren ließe."
Tugendterror und die Frage nach dem Glück
Gleichzeitig konnten auch ethische Ansprüche nicht länger aus einer angenommenen Ordnung der Welt abgeleitet werden. Im Gegenteil sei das neuzeitliche Denken dazu übergegangen, "die Moral zu verselbständigen und in Form von Forderungen an die Wirklichkeit und gegen die Wirklichkeit vorzutragen", so Konersmann.
Einen tragischen Höhepunkt habe diese Entwicklung mit der Französischen Revolution erreicht: "Das dürfen wir nie vergessen: 'La Terreur', die Schreckensherrschaft, ist im Namen der Tugend aufgetreten, Leute, die es besonders moralisch meinten und glaubten, aufgrund der Integrität dieser Forderung auch Terror ausüben zu dürfen."
Dass die Frage nach dem richtigen Maß, nach einem richtigen Leben – in der politischen wie in der privaten Sphäre – heute immer wieder neu zu stellen ist, dass sie inzwischen vor allem als Gegenstand von Aushandlungen betrachtet wird, die potenziell an kein Ende kommen, darin liegt zweifellos auch ein Moment der Freiheit.
Ralf Konersmann hält dem entgegen, dass wir trotzdem nicht aus dem Blick verlieren sollten, was Dingen, Menschen und Situationen von sich aus angemessen wäre. Es könnte ein guter Wegweiser sein für eine nachhaltige Lebensweise und ein persönlicher Kompass für Balance und Zufriedenheit, anstelle der ständigen Jagd nach einem intensiven, flüchtigen Glück.
(fka)
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