Außerdem in dieser Ausgabe von Sein und Streit:
Philosophischer Kommentar zum Aus des INF-Vertrags
Mit dem INF-Abkommen über das Verbot nuklearer Mittelstreckenwaffen leiteten die USA und die Sowjetunion 1987 eine Wende im Kalten Krieg ein. Jetzt steht der Vertrag vor dem Aus. Welche Spielräume bleiben der europäischen Politik im Angesicht atomarer Bedrohung? Andreas Urs Sommer kommentiert.
25. Todestag des Philosophen Paul Feyerabend
Mit seinem Credo "Anything goes" hat sich Paul Feyerabend in der Welt der Wissenschaft viele Feinde gemacht. Echte Forschung brauche keine Regeln, wissenschaftluche Erkenntnis sei relativ, so lautete seine feste Überzeugung. Ingeborg Breuer erinnert an den anarchischen Denker.
Ist das Böse hässlich?
37:58 Minuten
Macht Hass hässlich? Lässt ein durchtriebener Charakter sich wie im Krimi am Gesicht ablesen? Nein, die Moral ist keinem Menschen anzusehen, sagt die Philosophin Bettina Stangneth. Sie warnt vor den Vorurteilen in unserem Blick.
"Hass macht hässlich! Schauen Sie doch in den Spiegel!" So schimpfte der SPD-Abgeordnete Johannes Kahrs im September 2018 in Richtung der AfD-Fraktion. Seine polemische Attacke führte zum Eklat im Bundestag. Die Angesprochenen verließen aufgebracht den Saal.
Moral kann man nicht sehen
Für die Philosophin Bettina Stangneth ist dieser Schlagabtausch ein gutes Beispiel für "Hässliches Sehen". So bezeichnet sie in ihrem gleichnamigen Buch die weit verbreitete Tendenz, das moralisch Verwerfliche in möglichst anschauliche Bilder zu verdichten:
"Um sich bei der Stange zu halten, so glauben viele Menschen, ist es sehr nützlich, wenn man sich das Böse möglichst lebendig vorstellt, als etwas Abstoßendes, als etwas Hässliches, auf das alle mit dem Finger zeigen können. Und die ‚Schule des hässlichen Sehens‘ nenne ich genau diese Hoffnung, dass wir das Böse markieren können und uns darin gegenseitig versichern, dass wir eine Gemeinschaft auf anderen Standards sein wollen. – Das Problem ist nur: Man kann Moral nicht sehen."
Schablonen für Gutes und Schlechtes
Doch der Wunsch, schon auf den ersten Blick zu sehen, was von einem Unbekannten zu erwarten ist, sitzt tief. Eine weit zurückreichende Bildtradition zeugt davon, wie hartnäckig das Gute mit dem Schönen und das moralisch Schlechte mit dem Hässlichen gleichgesetzt worden ist. Man denke an den Teufel mit Bocksfuß in der unteren und holde Engel in der oberen Hälfte unzähliger Altarbilder.
Was den Kurzschluss von gut und schön, von schlecht und hässlich sehr gefährlich macht, so Stangneth, ist sein Umkehrschluss: die Annahme nämlich, "dass Hässliches etwas Hassenswertes ist." Im Mittelalter wurden Missetätern die Nasen abgeschnitten, um mit drastischen Strafen eine Ordnung herzustellen, in der verunstaltet aussieht, wer "Hässliches" tut. In unserer Art zu sehen leben Vorstellungen dieser Art bis heute fort, meint die Philosophin.
Stangneth: "Die Frage ist, was es aus dem Betrachter macht, wenn er ständig die Welt abscannt nach Schablonen des Guten und des Bösen, die – kulturell bedingt oder persönlich entstanden – dann im Endeffekt die Vernunft ablösen."
Blindes Vertrauen in das Sehen
"Hässliches Sehen" beschließt Bettina Stangneths Trilogie des dialogischen Denkens. Wie in den vorhergehenden Bänden "Böses Denken" und "Lügen lesen" hinterfragt sie in ihrem neuen Essay zentrale Ideen der europäischen Aufklärung. "Denk nach, hör zu und sieh hin, dann bist du auf dem Königsweg zu einer besseren Welt" – gestützt auf diese Grundannahme, sei die Philosophie der Aufklärung allzu vertrauensvoll davon ausgegangen, dass Denken immer die besten Absichten verfolge, Worte immer wahrhaftig seien, und dass einen nicht täuschen könne, was einem klar vor Augen stehe.
Tatsächlich aber legen wir selbst viel mehr in Bilder hinein, als uns das in der Regel bewusst ist, so Stangneth. Das führe dazu, dass ästhetische und moralische Fragen ständig zu Unrecht vermengt werden.
Moral liegt im Auge des Betrachters
Stangneth: "Was ein Mensch anzieht, welche Dinge er isst, wen er sich als seinen Lebenspartner vorstellt, ist moralisch zunächst mal irrelevant. Aber wenn wir anfangen, dann Kategorien zu bilden und zu sagen: Jeder Mensch, der auf diese oder jene Weise lebt, ist moralisch und gesellschaftlich nicht so zuverlässig wie ein anderer, dann vermischen wir eben die Kategorie persönlicher Vorlieben mit der Kategorie der Moral. Und das geht sei je immer schief."
Gegen dieses Regime des "Hässlichen Sehens" verteidigt Stangneth eine Kultur des "Schönen Sehens": nämlich die Bereitschaft, moralische Fortschritte anzuerkennen, und die Hoffnung auf eine von Vernunft geleitete Weiterentwicklung der Gesellschaft nie aufzugeben. Gleichzeitig plädiert sie dafür, mehr Verantwortung für das eigene Sehen zu übernehmen, indem wir uns im Gespräch mit Andersdenkenden immer wieder bewusst machen, wie sehr unser Blick auf die Welt jederzeit durch Traditionen und Wertvorstellungen vorjustiert ist.