Philosophin Cinzia Arruzza

Forderung nach einem Feminismus für die 99 Prozent

06:48 Minuten
Zwei Feministinnen protestieren im März 2017 in Buenos Aires gegen Gewalt an Frauen
Eine Demo gegen Gewalt an Frauen, 2017 in Buenos Aires - gerade der argentische Feminismus hat Cinzia Arruzza inspiriert. © imago/ZUMA Press
Von Sophia Boddenberg |
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Gemeinsam mit Nancy Fraser fordert die italienische Philosophin Cinzia Arruzza einen "Feminismus für alle". Inspiriert ist ihr Manifest durch soziale Bewegungen aus dem globalen Süden.
Die chilenische Hauptstadt Santiago, Brasiliens rechtskonservativer Präsident Jair Bolsonaro ist im Regierungspalast La Moneda zu Besuch. Auf der Straße protestieren hunderte Menschen gegen "Frauenhass, Rassismus und Faschismus".

Elf Thesen für eine gerechtere Welt

Mit dabei ist auch die italienische Feministin Cinzia Arruzza. Sie ist Anfang 40, hat kurzes, dunkelblondes Haar, trägt eine Brille mit großen Gläsern und roten Lippenstift. Sie ist eigentlich zu Besuch in Chile, um ihr neues Buch vorzustellen: "Feminismus für die 99 Prozent – Ein Manifest". Das hat sie gemeinsam mit den beiden politischen Philosophinnen Nancy Fraser und Tithi Bhattacharya geschrieben, alle drei sind Organisatorinnen des Internationalen Frauenstreiks in den USA.
Was die drei Autorinnen darin entwickeln, sind elf Thesen zu Themen wie Sexualität und Geschlechtergewalt, aber auch Wirtschaftskrisen und Klimawandel. Durch alle Thesen zieht sich Kritik am Kapitalismus, der sowohl die Unterdrückung der Frau als auch die Zerstörung der Umwelt verursache. Feminismus müsse deshalb antikapitalistisch sein, heißt es in These 3. Die Befreiung der Frauen sei eng verknüpft mit dem Schutz der Natur, weil Frauen einen Großteil der Landbevölkerung und der Klima-Flüchtlinge ausmachen.

In Lateinamerika ist Feminismus heute schon grün

In Ländern wie Peru und Indien seien es vor allem Frauen, die sich gegen Bergbauprojekte und Wasserprivatisierung sowie für nachhaltige Landwirtschaft und die Bewahrung der Biodiversität einsetzen. Es geht im Buch also nicht nur um Frauenrechte, sondern um eine gesamtgesellschaftliche politische Agenda. Der Titel soll an das Motto der Occupy-Wall-Street-Bewegung erinnern, aber mit einem kleinen Unterschied:
"Wir sprechen nicht vom Feminismus DER 99 Prozent, sondern vom Feminismus FÜR die 99 Prozent", sagt Cinzia Arruzza. "Wir sprechen zwar aus der Perspektive von Frauen, aber diese Perspektive entwickelt eine Politik für die Befreiung von allen, von der gesamten Menschheit. Wenn wir wirklich ein universelles Projekt der Emanzipation wollen, dann können wir die Probleme der Frauen nicht von Klassen-Konflikten trennen, oder von Rassismus. Wir müssen alle diese Elemente gemeinsam angehen."

Inspiration aus dem globalen Süden

In These 10 des Buches geht es um feministischen Internationalismus, um die Notwendigkeit, gemeinsam mit Frauen und Queers im Globalen Süden eine transnationale Bewegung aufzubauen. Deshalb ist Cinzia Arruzza in Chile zu Besuch.
In einem Kulturzentrum in Santiago stellt sie das Buch vor. Hinter ihr hängt ein Plakat, auf dem steht "Marielle lebt". Gemeint ist Marielle Franco, eine afro-brasilianische Aktivistin und Politikerin, die im vergangenen Jahr in Brasilien erschossen wurde. Theorie ist für Arruzza eng mit Aktivismus verbunden.
"Ich möchte an Marielle Franco erinnern, die für mich die Politik des Feminismus für die 99 Prozent verkörpert" erklärt Arruzza. "Wenn ich eine Aktivistin auswählen müsste, die ein Beispiel gesetzt hat für einen Feminismus der Arbeiterklasse, der für die Befreiung von allen kämpft, dann wäre es Marielle Franco."
Eine Nahaufnahme zeigt die Philosophin Cinzia Arruza. Sie trägt eine Brille und lächelt.
Cinzia Arruza ist Associate Professor für Philosophie an der New School for Social Research und dem Eugene Lang College in New York.© privat
Die gebürtige Italienerin lebt mittlerweile in den USA, sie ist Professorin für Philosophie an der New School for Social Research in New York. Dort hat sie ihre feministische Theorie entwickelt.
Sie ist davon überzeugt, dass der Kapitalismus die Haupt-Ursache für die Unterdrückung von Frauen ist. Im Kapitalismus sei die soziale Reproduktion, wie zum Beispiel Hausarbeit, Pflege und Erziehung, für die in den meisten Gesellschaften weiter Frauen zuständig sind, der Profitsteigerung untergeordnet. Das erzeuge eine Geschlechterhierarchie.
"Ich sage nicht, dass wenn wir den Kapitalismus loswerden, Frauen automatisch frei sein werden. Aber ich glaube, dass wenn wir den Kapitalismus nicht loswerden, wir ganz sicher nicht frei sein werden", bekräftigt Arruzza.

Die gläserne Decke zu durchbrechen, reicht nicht

Gleich im Vorwort des Buchs "Feminismus für die 99 Prozent" stellen die Autorinnen klar, dass sie mit dem sogenannten "Lean-In-Feminismus", den beispielsweise Facebook-Geschäftsführerin Sheryl Sandberg in ihrem gleichnamigen Buch vertritt, nichts zu tun haben wollen. Denn es reiche nicht aus, mehr Frauen in die Chef-Etagen von Unternehmen und in politische Positionen zu bringen.
"Uns wird immer gesagt, dass unser Ziel sein sollte, die gläserne Decke zu durchbrechen", sagt Arruzza. "Aber niemand denkt an die Frauen, die unten bleiben und die Scherben aufkehren müssen. Die Frauen aus der Arbeiterschicht, schwarze Frauen, Immigrantinnen. Wir sind gegen diesen liberalen Feminismus, bei dem es letztendlich um ein Klassenprojekt geht, ein Projekt für Geschlechtergleichheit innerhalb einer Klasse. Wir wollen einen Feminismus für die 99 Prozent, für die große Mehrheit der Frauen."

Feminismus über Grenzen hinweg

Arruzza setzt deshalb auf das Potential einer transnationalen feministischen Bewegung: "Ich glaube, dass die Bewegung sich immer weiter ausbreitet. Es ist interessant, dass Lateinamerika eine führende Rolle dabei spielt. Vor allem Argentinien. Viel von dem, was ich in den letzten Jahren geschrieben habe, war inspiriert von der argentinischen feministischen Bewegung, ihren Dokumenten, ihren Slogans. Es ist das erste Mal, dass eine feministische Welle aus dem Süden kommt, nicht aus dem Globalen Norden."
Um die Fehler der Frauenbewegung aus der Vergangenheit zu vermeiden, meint Arruzza deshalb, dass sich Frauen und Queers aus dem globalen Norden mit denen aus dem globalen Süden zusammentun müssen.
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