Eva Weber-Guskar ist derzeit Gastprofessorin für Philosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Ethik und Philosophie der Emotionen. Kürzlich wurde sie mit ihrem Projekt "Lebenszeiten. Wie gelingt menschliches Leben in der Zeit?" in das Heisenberg-Programm der Deutschen Forschungsgemeinschaft aufgenommen. Ihre Habilitation ist 2016 unter dem Titel "Würde als Haltung. Eine philosophischen Untersuchung zum Begriff der Menschenwürde" erschienen.
„Wir müssen uns klarmachen, wer wir waren, sind und sein wollen“
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Mal scheinen Minuten Stunden zu dauern, mal vergeht eine Woche wie im Flug. Zeit fühlt sich ganz verschieden an und wie wir sie erleben, prägt unser Wohlempfinden. Sie kann sogar krank machen. Aber welcher Umgang mit Zeit ist der Richtige?
Unser Verhältnis zur Zeit ist wesentlich dafür, ob es uns gut geht. Das merken wir etwa dann, wenn wir Langeweile oder Stress empfinden: "Wenn wir auf die einzelnen Sekunden, Stunden, Minuten achten, ist das eher unangenehm – wenn die Zeit nicht vergehen will, wir auf die Uhr starren und uns fragen, wann ist es denn endlich soweit." Die Berliner Philosophin Eva Weber-Guskar hat ausgiebig zu Bedeutung der Zeit für Menschen geforscht und kommt zu dem Schluss: "Das beste Verhältnis zur Zeit ist, wenn wir sie gar nicht bemerken."
Zeit muss gestaltet werden
Zeit sei für uns auf verschiedene Weisen von Bedeutung: "Zeit meint so etwas wie Dauer, Ordnung und Richtung allen Geschehens." Daraus ergeben sich verschiedene Perspektiven, mit denen wir uns ihr nähern können: Zunächst als uns stetig zur Verfügung stehende "Ressource", die wir mehr oder weniger sinnvoll füllen können. Aber auch als fortwährend vergehende Größe, die uns auf unser eigenes Ende zuträgt und somit eine "Versöhnung mit der Endlichkeit" erfordert.
Und schließlich die Zeit in ihren drei verschiedenen Zuständen: als vergangene, gegenwärtige und zukünftige. In dieser Hinsicht wird Zeit von etwas Äußerlichem zu etwas, das unser Selbstverständnis berührt, "weil wir selbst als zeitliche Wesen in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft existieren und zu diesen drei Existenzformen jeweils ein Verhältnis finden können und müssen."
Unser Bewusstsein umfasst mehr als nur das Jetzt
Zeitliche Wesen sind wir auch durch die spezifische Funktionsweise unserer Wahrnehmung. Dem Philosophen Edmund Husserl zufolge ist unser Bewusstsein selbst zeitlich organisiert. Es erfasse also nie nur "einen einzelnen Zeitpunkt im Jetzt", wie Weber-Guskar ausführt. "Im einzelnen Bewusstseinsakt ist immer schon Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft enthalten." Husserl sprach von einer "Ur-Impression" des gegenwärtigen Augenblicks, die aber untrennbar verbunden sei mit einer "Retention" des gerade vergangenen Moments und einer "Protention", also der Erwartung des nächsten Moments.
Anders, als es manche fernöstlichen Lehren empfehlen, geht Weber-Guskar deshalb davon aus, dass es nicht reicht, sich auf den gegenwärtigen Augenblick zu konzentrieren. Vielmehr betont sie, "dass wir uns über alle drei Zeitarten hinaus erstrecken sollten, um in der Gegenwart leben zu können". Wir müssten uns also "klarmachen, was wir in der Vergangenheit waren, was wir dort geplant haben und uns darüber mit Projekten in die Zukunft hin verlängern, um uns als zeitliche Wesen selbst zu realisieren."
Zeit kann krank machen
Deutlich wird das vor allem dort, wo unsere Zeitbezüge gestört sind, etwa in Fällen der Depression oder der Midlife-Crisis: In diesen Fällen gewinne die Vergangenheit zu viel Gewicht und überschatte die anderen Zeitdimensionen, so dass man "keine Möglichkeit mehr für die Zukunft sieht, anders zu sein und deswegen auch keine Möglichkeit mehr zu handeln".
Im Falle tödlicher Krankheiten wiederum werde die Zukunft nicht durch ein Übergewicht der Vergangenheit versperrt, sondern durch die Aussicht auf den eigenen Tod "praktisch unmöglich gemacht". Andersherum könne aber auch ein Übergewicht der Zukunft ein gelingendes Leben behindern, wenn man so sehr vorausplane, dass dabei die Gegenwart aus dem Blick gerate.
Die digitalen Medien schließlich zeigten, dass auch ein Übergewicht der unmittelbaren Gegenwart problematisch sein könne, wenn sie dazu führe, "dass man von Vergangenheit und Zukunft absieht und fast nur noch im Jetzt lebt". In den kurzfristigen Zeithorizonten, die das Gieren nach dem nächsten Posting, dem nächsten Like, der neuesten Info etablieren, könne der Blick auf die "großen Zusammenhänge" verlorengehen. Dieser Blick sei aber entscheidend, um längerfristige Pläne zu verfolgen, die von der Vergangenheit in eine fernere Zukunft reichen.
Durch Kinder Wurzeln in die Zukunft schlagen
Der schöne Satz des kanadischen Sozialphilosophen Charles Taylor "Wir müssen Wurzeln in die Zukunft schlagen" bedeute, so Weber-Guskar, dass wir unser Selbstgefühl nicht nur mit Blick auf unsere Herkunft entwickeln müssten, sondern auch mit Blick darauf, wo wir hinwollen: "Wir realisieren uns in der Zeit, indem wir uns auch für die Zukunft verantwortlich fühlen, insofern uns wichtig ist, was in der Zukunft passiert, und wir uns daraufhin entwerfen." Das gelte für die Einzelnen ebenso wir für die Gesellschaft: "Wie verorten wir uns denn als Individuum in der Zeit der Menschen und was haben Generationen miteinander zu tun?"
Auch ein Kinderwunsch könne unter anderem aus dem Verlangen entspringen, sich über das eigene Leben hinaus in die Zukunft zu projizieren: Ein "schöner Gedanke", findet Weber-Guskar, "da wird dann eine Gestik weitergetragen, ein Projekt wird weitergeführt, aber vielleicht ist es auch nur das Muttermal am rechten Auge, das dann immer weiter auftaucht."
Sich in die Zukunft entwerfen: Trotz und wegen der Katastrophe
In Zeiten der drohenden Klimakatastrophe und einem möglichen Aussterben der Menschheit fragt man sich allerdings, auf welcher Grundlage man eine positive Vorstellung von der Zukunft entwickeln soll. Erstaunlicherweise hätten Menschen historisch gesehen mit solch apokalyptischen Aussichten gut umgehen können. "Menschen können gut verdrängen und sich eine Zukunft entwerfen, ohne sehr realistisch dabei zu sein."
Allerdings wäre ein realistischer Umgang mit der Bedrohung wünschenswerter: "Was können wir tun, um die Apokalypse doch noch abzuwenden?" Hier sieht Weber-Guskar eine Gelegenheit, die individuelle und gesellschaftliche Notwendigkeit von Zukunftsbezügen zu verbinden.
"Wenn wir nun mit der drohenden Klimakatastrophe ganz eindeutig einen Bereich haben, wo es sinnvolle Projekte auszuführen gibt, dann könnte man sagen, ‚Ich mache das zu meinem Projekt, dass ich mich engagiere, um so weit es geht, noch etwas von der Klimakatastrophe abzuwenden'. Und insofern tut man hier für sich Gutes, indem man der Welt Gutes tut."
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