Als Gesellschaft können wir doch nicht sagen: Menschen, die auch Familienarbeit erledigen müssen, bekommen dann nur noch die Jobs, die übrig bleiben, und alle guten Jobs gehen an diejenigen, die keine Familienarbeit machen.
Philosophin Lisa Herzog über Gerechtigkeit
Neu nachdenken über Wirtschaft und Gesellschaft: Das fordert die Philosophin Lisa Herzog. © picture alliance / dpa / Horst Galuschka
Warum Wirtschaft weibliche Perspektiven braucht
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Bei wirtschaftlichen Analysen werden weibliche und feministische Perspektiven oft ausgeblendet, beobachtet die Philosophin Lisa Herzog. Ökonomische Schieflagen und politische Fehlentscheidungen seien die Folge - gerade auch in der Energiekrise.
Sorge um die Familie, die Erziehung von Kindern, die Pflege von Angehörigen, die sich nicht selbst versorgen können, all diese Tätigkeiten sind in unserer Gesellschaft traditionell weiblich kodiert und werden immer noch zum großen Anteil von Frauen erledigt, betont die Philosophin Lisa Herzog von der Universität Groningen in den Niederlanden. "Aber die klassischen Wirtschaftswissenschaften blenden das oft einfach komplett aus."
Ein Zerrbild der Wirklichkeit
Die Folge, laut Herzog: ein verzerrtes Bild der gesellschaftlichen Wirklichkeit - mit gravierenden Folgen für das Verständnis von Gerechtigkeit und Chancengleichheit, das auch Einfluss auf wirtschaftspolitisches Handeln nimmt.
Beispiel Arbeitsmarkt: Vieles werde dort am Ideal des "jungen, mobilen, immer einsetzbaren männlichen Kandidaten" ausgerichtet. Wo bleiben dabei Menschen mit familiären Verpflichtungen?
Ob weibliche und feministische Perspektiven in wirtschaftspolitische Überlegungen einbezogen werden oder nicht, berühre konkrete Alltagsfragen ebenso wie tiefgreifende Gerechtigkeitsfragen, so Herzog.
Effizienz darf nicht alles sein
Dass Philosophie zu ökonomischen Belangen überhaupt etwas zu sagen habe, liegt für sie auf der Hand - schon deshalb, weil der Einflussbereich der Wirtschaft so allumfassend geworden sei, dass dort auch andere Werte Geltung haben sollten als pure Effizienz:
Gerechtigkeit, Demokratie, gegenseitiger Respekt, das ist nichts, was man nur um die Wirtschaft außen herum leben muss, sondern auch in der Wirtschaft selber.
In ihrer eigenen Arbeit betont Herzog immer wieder, dass Märkte nichts Natürliches sind und also auch verändert werden können. Sie plädiert dafür, die Marktwirtschaft viel konsequenter in den Dienst einer gerechten Gesellschaft zu nehmen.
Bedürfnisse im Mittelpunkt
Mit Blick auf die gegenwärtige Energiekrise betont Herzog, Maßstab für politische Hilfprogramme dürfe nicht nur die Zahlungsfähigkeit oder Zahlungsbereitschaft der Menschen sein:
"Wir müssen ganz grundsätzliche menschliche Bedürfnisse wieder stärker in den Mittelpunkt stellen - und ganz besonders diejenigen von Kindern und Jugendlichen." Denn sie könnten am wenigsten dafür, in welchem Umfeld sie aufwachsen und welche Chancen ihnen damit offenstehen.
"Ich glaube, eine ganz große Frage ist: Wie verhindern wir, dass durch die Energiekrise und die gestiegenen Lebenshaltungskosten manche Kinder und Jugendliche noch stärker sozial ausgegrenzt und abgehängt werden, als es sowieso schon der Fall ist."