Außerdem in dieser Ausgabe von Sein und Streit:
Philosophischer Kommentar zur Abtreibungsdebatte
An der von Gesundheitsminister Jens Spahn geplanten Studie zu "psychischen Folgen von Abtreibungen" gibt es viel Kritik. Aber weshalb diskutieren wir überhaupt wieder das Ob von Abtreibungen? Catherine Newmark kommentiert.
Donna Haraway: Storytelling zur Rettung der Menschheit
Unsere Lebensweise ruiniert die Welt. Um die Menschheit zu retten, müssen wir andere Geschichten über uns erfinden, meint die US-amerikanische Philosophin Donna Haraway. Sie deutet die Beziehungen von Mensch, Natur und Technik neu.
Rettet die Arbeit!
37:17 Minuten
Computer, übernehmen Sie: Viele Aufgaben erledigen heute Algorithmen. Wie verändert das die Berufswelt? Wer hat Arbeit, wer verliert sie, und wem nützt das? Darüber sollten nicht nur Konzerne entscheiden, sagt die Philosophin Lisa Herzog.
Jeder vierte Job in Deutschland könnte bald von künstlichen Intelligenzen erledigt werden. So lauten Schätzungen über die Zukunft der Arbeit. Verschaffen Maschinen uns damit mehr Freizeit oder vernichten sie Millionen von Arbeitsplätzen? Die Philosophin und Sozialwissenschaftlerin Lisa Herzog beobachtet, dass Gewinne und Verluste durch die Digitalisierung schon jetzt ungleich verteilt sind.
Spaltung der Gesellschaft
Herzog: "Im Moment sehe ich die Gefahr, dass wir in eine Spaltung der Gesellschaft reinlaufen, in der für manche Arbeit unnötig wird, weil sie ihr Einkommen anderweitig beziehen – aus Dividenden, aus Patenten an Software –, während andere immer mehr arbeiten müssen, möglicherweise als Anhängsel irgendwelcher digitalen Systeme im Sinne von Plattform-Ökonomien. Und da, denke ich, würde für unsere Gesellschaften sehr viel auf dem Spiel stehen."
Denn Arbeit dient in Herzogs Augen nicht nur zum Geldverdienen oder zur Selbstverwirklichung, sie hat auch eine wichtige soziale Komponente: Beziehungen im Arbeitsleben schaffen Bindekräfte, die zum Zusammenhalt der Gesellschaft beitragen, schreibt Herzog in ihrem Buch "Die Rettung der Arbeit". Dabei hat die Philosophin keine Sorge, dass uns die Arbeit ausgeht. Es geht ihr darum, wer über die Zukunft der Arbeit entscheidet: Wie wir Arbeit in einer zunehmend digitalen Berufswelt neu definieren, bewerten und verteilen, sei nicht nur eine Frage von ökonomischem Kalkül.
Was geben wir an Maschinen ab – was nicht?
Herzog: "Wie wollen wir eigentlich arbeiten? Für wen? Welche Arbeiten sollen wie priorisiert werden? Was wollen wir an Roboter und Algorithmen abgeben und was vielleicht auch gerade nicht? Das ist eine politische und gesellschaftliche Gestaltungsaufgabe. Das dürfen wir nicht einfach den Märkten und den Internetfirmen überlassen."
Wie unbezahlte Arbeit den Reichtum von wenigen mehrt, das zeigen die Geschäftsmodelle von sozialen Netzwerken wie Facebook. Wer dort seine Freizeit verbringt, trainiert Algorithmen, für deren Treffsicherheit Werbekunden große Summen zahlen. Profit schlägt daraus der Netzwerk-Anbieter, während den Nutzern nicht einmal bewusst wird, welchen Beitrag sie dazu geleistet haben.
Wem gehört das Gold der Daten-Schürfer?
Herzog: "Aus ihrer Perspektive ist es Freizeitverhalten, aus Perspektive der Unternehmen ist es Wertschöpfung. Und deswegen stellen sich da auch viele Fragen danach: Sollte das anders strukturiert werden – mit anderen Eigentumsverhältnissen zum Beispiel – oder einfach dadurch, dass man diese Firmen stärker besteuert und diese sozial geleistete Arbeit von allen Nutzern wieder stärker in die Gesellschaft zurückbringt?"
Können wir soziale Netzwerke zähmen und stärker für das Gemeinwohl einspannen? Und wie steht es mit anderen Formen unbezahlter Arbeit? Sollte es für die Erziehung der Kinder oder die Pflege von Angehörigen mehr Geld vom Staat geben – und würde es unser Verhältnis zu ihnen verändern, wenn die Zeit, die wir ihnen schenken, bezahlt würde?
Unternehmen sollen demokratischer werden
Für Lisa Herzog bringt der Wandel der Berufswelt viele Fragen mit sich, auf die Politik und Gesellschaft die richtigen Antworten finden müssen – auch mit Hilfe digitaler Technologien, zum Beispiel wenn es darum geht, Unternehmen demokratischer zu organisieren und diejenigen einzubinden, "die die eigentliche Arbeit erledigen – und die damit ja auch sehr viel Wissen und sehr viele Kenntnisse haben, die für die Entscheidungen eigentlich relevant sind".
Online-Diskussionsforen für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, Abteilungen, die ihre Leitung selbst wählen, oder Start-ups, die demokratisch geführt werden, sind Experimente, die Herzog Hoffnung machen. Sie sollten aus ihrer Sicht durch Steuervorteile unterstützt werden. Auch das Modell der belgischen Soziologin Isabelle Ferreras hält sie für einen interessanten Weg. Es sieht für große Firmen ein Zwei-Kammern-System vor, in dem Vertreter der Belegschaft und der Kapitalgeber gleichberechtigt entscheiden.
Soziale Ungleichheit untergräbt Solidarität
Derzeit stehe einer wirklichen Demokratisierung der Arbeitswelt allerdings die wachsende soziale Ungleichheit entgegen, so Herzog. Wenn Hierarchien und extrem unterschiedliche Einkommensverhältnisse für Zwangssituationen sorgten, sei ein fairer Interessenausleich unmöglich.
Herzog: "Wie kann ich jemand vertrauen, wenn ich weiß, dass diese Person extrem unter Druck steht und eigentlich keinerlei individuelle Handlungsspielräume hat? Wie können wir uns überhaupt auf Augenhöhe begegnen, wenn die Verhältnisse so ungleich sind? Wenn ich weiß, ich kann jemand anders großzügig bezahlen oder auch gar nicht, und diese andere Person hat keinerlei Möglichkeit, sich dagegen zu wehren? Solidarität setzt voraus, dass man sich einigermaßen auf Augenhöhe begegnen kann. Und das wird unterminiert durch soziale Ungleichheit."