"Ich bin der Typus kosmopolitische, jüdische Intellektuelle"
34:13 Minuten
Mit 14 wähnte Susan Neiman die Revolution vor der Tür, schmiss die Schule und las die französischen Existenzialisten. Später machte die gebürtige US-Amerikanerin trotzdem an der Uni Karriere. Einer engagierten Philosophie bleibt sie bis heute treu.
Aufgewachsen ist Susan Neiman, geboren 1955, als Kind einer jüdischen Mittelschichtsfamilie in Atlanta (Georgia), in den Südstaaten der USA.
"Das Leben in den Südstaaten drehte sich damals um die Rassentrennung", sagt Neiman. "Meine Mutter war mutig und in der Bürgerrechtsbewegung engagiert. Auch als Kleinkind bekam ich mit, dass es da etwas Ungerechtes gibt. Dagegen sollten wir etwas tun, gerade als Juden, die einmal Sklaven in Ägypten gewesen sind." Das Engagement ihrer Mutter prägt sie bis heute.
Engagement gegen die Rassentrennung
In den USA sei es üblich gewesen, dass Juden in die Bürgerrechtsbewegung gingen. Mehr als die Hälfte von ihnen kommen aus der Tradition des universalistischen Judentums, sagt Susan Neiman, einer Tradition, die es in Deutschland leider viel zu wenig gebe:
"Obwohl sie weniger als zwei Prozent der Bevölkerung ausmachen, waren damals 30 Prozent aller Weißen, die als Aktivisten in die Südstaaten gegangen sind, jüdisch."
Später fand Neiman ihre Liebe zur Philosophie und entschloss sich in den Achtzigerjahren, in Westberlin zu studieren. Da schrieb sie bereits an einer Doktorarbeit über Kants Vernunftbegriff und lernte Deutsch.
Liebe zur deutschen Philosophie
Sie erhoffte sich auch eine freundliche, intellektuell aufgeklärte Stimmung in Europa, wo, wie sie sagt, der Weg zwischen Uni und Leben nicht so weit ist, wie in den USA.
"In Westberlin war ich dann absolut ungewöhnlich. Ich war für die meisten Leute sicherlich die erste Jüdin, die sie kennenlernten, und auch die erste Amerikanerin. Außer denen, die sie aus der US-Armee in Deutschland kannten."
Aus dem geplanten einen Jahr wurden sechs. Doch ihren in Berlin geborenen Sohn wollte sie nicht in Deutschland aufwachsen sehen. Neiman ging zurück in die USA, wurde Professorin in Yale und zog anschließend - inzwischen mit drei kleinen Kindern - nach Israel. Dort erhielt sie nach einigen Jahren das Angebot, das Einstein Forum in Potsdam zu leiten, eine Einrichtung, die intellektuelle Debatten der Öffentlichkeit zugänglich machen will. Doch erst, nachdem sie sich davon überzeugt hatte, dass das Berlin der 2000er-Jahre für sie und ihre Kinder ein lebenswerter Ort ist, nahm sie das Angebot an.
Zuhause fühlte sie sich weder in Yale noch in Tel Aviv: "Das ist mein Schicksal, ich werde nirgendwo zu Hause sein. Ich bin halt dieser Typus wurzellose, kosmopolitische, jüdische Intellektuelle - und dazu stehe ich." Daher passe sie auch gut nach Berlin. "Berlin ist ein guter Ort, um nicht zu Hause zu sein."
Als Donald Trump zum Präsidenten der USA gewählt wurde, entschloss sich Susan Neiman, die deutsche Staatsbürgeschaft anzunehmen.
"Uns fehlt eine linke jüdische Stimme"
Neiman ist eine gern gehörte Teilnehmerin in öffentlichen Debatten zu Ereignissen in den USA und - in den letzten Jahren - auch in Deutschland. Zuletzt engagierte sie sich in der Initiative Weltoffenheit, den Auseinandersetzungen um den kamerunischen Philosophen Achille Mbembe und den BDS-Beschluss des Deutschen Bundestages.
"In Deutschland, fehlt eine linke jüdische Stimme," sagt sie. "Wenn man harte Kritik an der Politik Israels ausspricht, wird einem auch als Jude oder Jüdin Antisemitismus vorgeworfen. Das ist mir in diesem Jahr öfter passiert."
Die jüngsten kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Israel und der Hamas würden aufs Neue die falsche Haltung der Deutschen belegen, die sich mit einer rechtsradikalen israelischen Regierung solidarisieren würden. Zu den antisemitischen Demonstrationen der letzten Wochen sagt Neiman: "Ich kann die antisemitischen Ausschreitungen nicht gutheißen. Aber ich verstehe sie."
"Von den Deutschen lernen"
Susan Neiman hat zwar gerade ein Buch veröffentlicht, das den deutschen Weg der Vergangenheitsaufklärung positiv beurteilt - "Von den Deutschen lernen" (Hanser Berlin) -, doch im Verhältnis zu Israel verhindere der deutsche Blick in die Vergangenheit den auf die Gegenwart, sagt sie:
"Wenn man an universelle Menschenrechte glaubt, muss man sehen, dass die Rechte der Palästinenser seit über 50 Jahren missachtet wurden."
(AB)