Svenja Flaßpöhler, geboren 1975, promovierte in Philosophie an der Universität Münster. Sie ist Journalistin und Autorin und leitet seit 2018 als Chefredakteurin das "Philosophie Magazin".
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Der Nullpunkt als riesige Chance
40:29 Minuten
Es ist das Gebot der Stunde: Abstand halten! Das ist für viele Menschen mit Opfern verbunden. Die Philosophin Svenja Flaßpöhler sieht hingegen mehr die Chancen, die in der Coronakrise liegen. Wir könnten uns nun genau überlegen, wohin die Reise gehen soll.
Die Regierungschefs von Bund und Ländern beraten über Lockerungen der Corona-Beschränkungen – auf lange Sicht aber wird sich wenig daran ändern, dass wir auch weiterhin Abstand voneinander halten müssen.
Sich die Hand geben, umarmen, mit Freunden im Café sitzen, Theater oder Kinobesuche – das alles ist Normalität in weiter Ferne. Welche Möglichkeiten haben wir, mit dem erzwungenen Abstand konstruktiv umzugehen? Vielleicht hilft eine Umbewertung der Lage? Die Philosophin Svenja Flaßpöhler etwa sieht im ‘social distancing‘ nicht unbedingt nur Verzicht.
Abstand als Privileg
Svenja Flaßpöhler bewertet die räumliche Distanz in Corona-Zeiten sogar als ein großes Privileg. Die Chefredakteurin des "Philosophie Magazins" erinnert daran, dass längst nicht jeder in der komfortablen Lage ist, den notwendigen Mindest-Abstand überhaupt einzuhalten:
"In diesen Tagen ist die Möglichkeit, Abstand zu halten, eine Errungenschaft. Die wahre Zumutung liegt doch eher darin, wenn Menschen das gar nicht können – wie zum Beispiel in den Flüchtlingslagern, wo sie unter schrecklichsten hygienischen Bedingungen aufeinander hocken. Wir können uns Abstand leisten – anderswo ist es nicht möglich, da wird die Menschenwürde missachtet."
Auch vorher galt: Bitte nicht berühren!
Den teilweise recht starken Unmut über die temporär verordnete Distanz möchte Flaßpöhler "grade rücken". Sie gibt zu bedenken, dass ein gewisser Abstand ohnehin kultur-immanent und nichts wirklich Neues sei:
"Es gibt bei Elias Canetti eine sehr schöne Stelle zur 'Berührungsfurcht' – direkt am Anfang seines Hauptwerks 'Masse und Macht'. Da sagt er, dass die Berührungsfurcht eigentlich etwas ganz dem Menschen Mitgegebenes ist. Etwas, das wir immer schon in uns tragen. Das merkt man zum Beispiel daran, dass man – ich rede jetzt mal über ganz normale Zeiten - ja auch ein bisschen zusammen zuckt, wenn man in der U-Bahn aus Versehen berührt wird oder wenn irgendjemand einen anrempelt. Das empfinden wir wirklich im wahrsten Sinne des Wortes als übergriffig."
Unser natürlicher Hang zum Abstand werde jetzt in der Corona-Krise nur noch intensiviert, sagt die Philosophin. Sie will die Situation jedoch keinesfalls verklären:
"Auch ich bin froh, wenn das wieder vorbei ist – ich würde gerne wieder mit einem guten Freund an Theke sitzen und ihn umarmen und ein Küsschen auf die Wange drücken, danach sehne ich mich schon sehr! Aber wir müssen das jetzt eine Zeitlang nicht nur aushalten – sondern wir sollten auch versuchen, eine Haltung dazu zu kriegen."
Kritischer Blick auf die neue Expertenkultur
Die momentanen Vorgaben von Virologen und Medizinern zu missachten halte sie für "kollektiven Selbstmord", betont Svenja Flaßpöhler. Zugleich sieht sie die aktuelle "Expertenkultur" durchaus auch kritisch:
"Wir sind in der prekären Situation, dass wir als aufgeklärte, mündige Bürger – die wir eigentlich sein sollten – gar keine andere Wahl haben, als diesen Autoritäten zu gehorchen. Wenn mir ein Virologe sagt, soundso ist das und jetzt hilft nur Abstand halten, dann kann ich nicht guten Gewissens sagen: ‘Nee, das stimmt jetzt nicht und das mache ich nicht‘, sondern ich muss mich daran halten. Und gleichzeitig gehört es natürlich zur Mündigkeit dazu, seinen kritischen Geist zu bewahren – man muss immer wach bleiben!"
Die Entdeckung der nicht-taktilen Nähe
Es verstärke sich der Eindruck, dass der "neue Abstand" erstaunlicherweise zu einer substantiell neuen Nähe führe, so Flaßpöhler: Menschen schilderten, dass sie den Umgang miteinander als freundlicher und zugewandter erlebten. Dieses Gefühl könne offenbar auch ohne große körperliche Nähe entstehen: "Wenn man den Debatten folgt, dann wird immer so getan, als würden wir uns ständig alle umarmen und knutschen und übereinander herfallen. Aber so ist es ja nun mal nicht!"
Berührungen müssten nicht zwangsläufig zu Nähe führen, manchmal, sagt die Philosophin, könnten sie Nähe sogar verhindern: "Man umarmt jemanden irgendwie, ohne ihm so richtig in die Augen zu schauen. Dagegen kann grade in der Sprache und im Miteinander-Reden eine unglaubliche Nähe entstehen. Und ich glaube, dass wir die Dimension einer nicht-taktilen Nähe nochmal neu entdecken können und müssen."
Das Potential des Nullpunkts
Der Shutdown und die Corona-Zeit sind einschneidende, kollektive Erfahrungen. Sie werden unser Leben und die Zukunft unseres Landes beeinflussen – und nicht zum Schlechten, hofft Svenja Flaßpöhler:
"Ich glaube schon, dass die Krise das Potential hat, uns nachhaltig zu verändern – ich sehe keinen Sinn darin, jetzt einfach nur pessimistisch darauf zu blicken. Man muss sich schon fragen, was für Denkräume jetzt geöffnet werden."
Im Hinblick auf das "Wiederhochfahren der Systeme", den Neuanfang nach der Krise, könne man sich nun gut überlegen, wohin die Reise gehen solle. Der Fokus müsse viel stärker auf der Umwelt und dem Miteinander liegen, sagt die Philosophin:
"Wir sind grade an einem gewissen Nullpunkt – wann gibt es das schon mal? Ich habe manchmal das Gefühl, mehr kann uns eine Chance gar nicht vor die Füße gelegt werden – wir können sie jetzt nutzen, wir können sie aber auch einfach links liegen lassen."
(tif)