Ursula Renz: "Was denn bitte ist kulturelle Identität? Eine Orientierung in Zeiten des Populismus"
Schwabe Verlag Basel, 2019
133 Seiten, 19,50 Euro
Kultur ohne Aneignung gibt es nicht
36:40 Minuten
Weiße Popstars ernten zuweilen Empörung, wenn sie sich etwa mit Dreadlocks sehen lassen. Der Vorwurf lautet: kulturelle Aneignung. Philosophin Ursula Renz sieht das kritisch. Hinter den Vorwürfen stehe aber ein Machtproblem, das diskutiert werden müsse.
Als die Musikerin Miley Cyrus sich vor Kurzem mit viel Goldschmuck vor einem Pool ablichten ließ, gab es umgehend einen Sturm der Entrüstung von Seiten der Black Community. Der Vorwurf: Cyrus habe sich als Weiße damit den sogenannten "Bling"-Schmuck, einen Mode-Stil, der auf die afroamerikanische Hip-Hop-Szene zurück geht, unrechtmäßig angeeignet und schlage daraus nun Profit.
Die Philosophin Ursula Renz, die sich in ihrem jüngsten Buch intensiv mit kultureller Identität auseinandergesetzt hat, erklärt die Empörung damit, "dass sich hier jemand ein Element einer Kultur zu eigen macht, die lange Zeit als eine unterdrückte Kultur empfunden wird, und damit dann gewissermaßen auch noch reüssiert in einer Gesellschaft, in der Aufmerksamkeit relativ ungerecht verteilt ist."
Nicht die Hautfarbe ist das Problem, sondern das Machtgefälle
Gibt es also Elemente von Kulturen, die nur von Angehörigen dieser Kultur verwendet werden dürfen? Können kulturelle Merkmale exklusives Eigentum sein?
Renz argumentiert, dass die Problematisierung von Hautfarbe am Problem vorbeizielt:
"Wenn es tatsächlich ein moralisches Problem dabei gibt, dann hängt das nicht an der Hautfarbe derjenigen Person, die diesen Schmuck trägt, sondern dann hängt das möglicherweise an der ganzen Inszenierung, dass jemand, der über viele Ressourcen verfügt, jetzt sich auch noch ein Element aus einer Kultur zu eigen macht, die sich als ressourcenärmer und ihre Kultur deshalb viel stärker als Eigentum auffasst."
Die Idee eines "kulturellen Eigentums" hält Renz generell für problematisch: "Denn Kultur ist immer auch Kulturtransfer." Kulturen seien nie unveränderlich, sie ließen sich nicht auf feststehende Eigenschaften zu reduzieren. Der Akt der Übernahme von Elementen anderer Kulturen könne entsprechend keine moralische Verfehlung darstellen. Bei den Debatten, in denen "kulturelle Aneignung" kritisiert wird, gehe es tatsächlich vor allem um die Wahrnehmung von Status- und Machtgefällen zwischen einer dominanten und einer Minderheiten-Kultur. "Aber das Aneignen selber, das ist Kultur. Das finden wir in der ganzen Kulturgeschichte immer wieder: in der Literatur, in der Musik, in der Philosophie."
Sind Dreadlocks rassistisch?
Immer wieder wird kontrovers diskutiert, ob Weiße zum Beispiel Dreadlocks tragen dürfen. Kritische Stimmen, wie zum Beispiel die Kolumnistin Hengameh Yaghoobifarah, halten das für eine problematische Aneignung von Widerstandssymboliken der jamaikanischen Rastafari-Kultur im damals kolonialen Kontext.
Für Renz spricht aus diesem Vorwurf selbst ein "essenzialistisches Kulturverständnis", insofern es eine bestimmte Haartracht exklusiv einer Kultur zuordnet: Eine Interpretation von Kultur also, die Kulturen jeweils feststehende und wesenhafte Eigenschaften zuschreibe. Problematisch sei also nicht nur das Konzept der kulturellen Aneignung, sondern bereits die dahinter liegende Vorstellung einer "kulturellen Identität", weil diese die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Kultur mit dem Wesen eines Menschen verwechsle.
Kulturelle Eigenschaften sind niemals wesentlich
Zur Identität eines Menschen gehöre alles, was unabdingbar dafür ist, dass dieser Mensch als er selbst weiterexistiert – alle "wesentlichen" Eigenschaften, die er nicht austauschen kann ohne ein substantiell anderer zu werden. Bei kulturellen Eigenschaften sei das nicht der Fall, hier handele es sich um "unwesentliche" Eigenschaften: "Wenn diese Aspekte der kulturellen Prägung nicht mehr da sind, dann existiert das Individuum trotzdem noch weiter."
Dass Angehörige von nicht-weißen Kulturen sich trotzdem in ihrer Identität gefährdet fühlen, wenn ihre kulturellen Symbole oder Praktiken von Weißen übernommen werden, habe "seinen Hintergrund beispielsweise in der Geschichte imperialistischer Aneignung von Gütern, die eben nicht teilbar sind."
Ein Beispiel dafür biete die Debatte um die Rückgabe der während der Kolonialzeit geraubten Kunstwerke an die afrikanischen Ursprungsländer: Hier gebe es klare Besitzverhältnisse, die man auch nach Generationen noch zurückverfolgen könne. Mit kulturellen Praktiken oder Symbolen aber verhalte es sich anders, unterstreicht Renz: Diese seien sehr wohl teilbar – nicht exklusiv – und könnten also auch nicht enteignet werden.
Renz gibt zum Beispiel zu bedenken, dass Dreadlocks inzwischen schon seit einigen Jahrzehnten auch von Weißen getragen würden: "Wie lange muss ein Element Teil einer Kultur sein, um als Teil dieser Kultur auch wirklich akzeptiert worden zu sein? Das scheint mir eine schwierige Frage zu sein."
Aneignung kann auch Solidarität bedeuten
Das Problem bei der kulturellen Aneignung sieht Renz weniger im Akt der Übernahme selbst, sondern im Umgang damit: "Ist nicht letztlich die Haltung, mit der solche Dinge übernommen werden, ganz entscheidend?" In diesem Sinne wünscht sich Renz etwa in der Popkultur mehr Achtsamkeit: Im Falle von Musikgrößen, "die sich andere Stilelemente aneignen, sollte das einhergehen mit einem ganz großen Gestus des Respekts diesen Elementen gegenüber."
Statt Kultur als Eigentum aufzufassen und jeden Transfer mit einem Enteignungsvorwurf zu versehen, plädiert die Philosophin für "kreativere Reaktionen" und regt an, genau hinzuschauen: So könne das ‚Aneignen‘ bestimmter Symbole, wie etwa im Falle der Dreadlocks, auch Ausdruck einer Solidarisierung mit den Herkunftskulturen und ihren Widerstandspraktiken sein.
Kulturelle Offenheit statt Identität
Renz bezieht ihre Kritik dabei ebenso auf rechte wie linke Identitätspolitik: Beide seien sich ähnlich in ihrem geschlossenen, exklusiven Kulturverständnis, ihrer Geste des Ausschlusses: "Das ist ein Hintergrund meines Buches, dass das Konzept der kulturellen Identität auf beiden Seiten problematisch ist, weil es auf beiden Seiten, ausgrenzt, oft andere herabsetzt und die Dialogkultur zum Erliegen kommt."
Im Dialog aber sieht Renz eine entscheidende Voraussetzung dafür, über bloße Anschuldigungen hinauszukommen: Man müsse "ins Gespräch kommen darüber, was dem anderen an seiner eigenen Kultur wichtig ist, warum für ihn das ein Problem darstellt, wenn ich mir das zu eigen mache."
Renz plädiert deshalb dafür, sich vom Konzept der kulturellen Identität ganz zu verabschieden: Die "sehr starke Identifizierung mit bestimmten kulturellen Symbolen" werde unter der Hand zu einem Problem für ein "konstruktives Miteinander, für die Integration und Offenheit von Kulturen." Denn: "Kultur ist nie statisch. Und wenn sie statisch wird, dann ist sie tot – das gilt, glaube ich, auch für Minderheitskulturen."
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