Katharina Gnath ist Senior Project Manager bei der Bertelsmann Stiftung. Ihre Schwerpunkte sind europäische Wirtschafts- und Währungspolitik und internationale Finanzbeziehungen.
Gabriel Wollner ist Professor für Politische Philosophie an der Universität Bayreuth. Sein besonderes Interesse gilt Fragen an der Schnittstelle von politischer Philosophie und politischer Ökonomie.
Wie Europa gerechter machen?
22:00 Minuten
Klima-Abgabe? Grundeinkommen? Eine Steuer für Finanzgeschäfte? Derzeit kursieren viele Ideen für eine gerechtere EU. Die Ökonomin Katharina Gnath und der Philosoph Gabriel Wollner diskutieren, wie realistisch diese Vorschläge sind.
Kurz vor der Wahl zum Europäischen Parlament ist die EU in Krisenstimmung. Die Schere zwischen Arm und Reich klafft immer stärker auseinander – zwischen den Staaten ebenso wie in den einzelnen Gesellschaften. Populisten, die auf nationale Alleingänge setzen und Angst vor Einwanderung schüren, bekommen starken Zulauf. Großbritannien ringt um den Brexit und bringt damit die Gemeinschaft als Ganze ins Wanken.
Grundeinkommen: Woher kommt das Geld für alle?
In dieser heiklen Lage mischen sich unter die Kampagnen der Parteien zur Europawahl die Stimmen von 24 Philosophinnen und Philosophen, die eigene EU-Reformvorschläge diskutieren. In einem Essayband der Initiative "Twelve Stars" und der Bertelsmann Stiftung wirbt etwa der belgische Wirtschaftsethiker Philippe Van Parijs für ein bedingungsloses Grundeinkommen: Diese "Eurodividende" für alle EU-Bürger will er durch eine höhere Mehrwertsteuer finanzieren.
Die Ökonomin und Politikwissenschaftlerin Katharina Gnath und der Politische Philosoph Gabriel Wollner stehen diesem Vorschlag eher skeptisch gegenüber. "Ich glaube, dass hier die Erwartung, was die EU direkt für die Bürgerinnen und Bürger tun kann, zu groß ist", so Gnath im Gespräch mit Deutschlandfunk Kultur. Anstelle von direkten Transferleistungen plädiert sie für einen europäischen Austausch über nationale Mindeststandards der Sozialsysteme.
Finanzkrise: Spekulanten sollten für die Folgen zahlen
Auch Gabriel Wollner hat Zweifel am Konzept des Grundeinkommens: "Es besteht die Gefahr, dass ein Grundeinkommen dazu genutzt werden könnte, um den Rückbau von Umverteilung und wohlfahrtsstaatlichen Maßnahmen in anderen Bereichen zu betreiben." In seinem Essay für den Sammelband "Twelve Stars" spricht Wollner sich für eine Finanztransaktionssteuer aus: als Instrument, um Wohlstand gerechter zu verteilen – und um bei der Bewältigung von Finanzkrisen diejenigen stärker in die Pflicht zu nehmen, die durch riskante Spekulationen den Schaden überhaupt verursacht haben.
"Die Kosten wurden auf die Allgemeinheit abgewälzt", sagt Wollner im Rückblick auf die Finanzkrise von 2007. "Diejenigen, die primär auf Finanzmärkten aktiv sind und durch ihr Verhalten zur Krise beigetragen haben, wurden an den Kosten nicht beteiligt. Eine Finanztransaktionssteuer würde zur Fairness auf Finanzmärkten beitragen und Anreize setzen, schädliches, spekulatives Verhalten zu vermeiden."
Treibhausgase: Wäre die Klima-Steuer ungerecht?
Ein weiterer Vorschlag der "Twelve Stars" zielt auf die Besteuerung von Kohlendioxyd. Hier gibt es indessen scharfe Kritik am Verursacher-Prinzip: Würden etwa Pendler, die nicht ohne weiteres auf klimafreundliche Verkehrsmittel umsteigen können, von einer allgemeinen Treibhausgas-Abgabe nicht über Gebühr belastet? An dieser Frage hat sich in Frankreich der seit Monaten wütende Protest der Gelbwesten entzündet.
Gabriel Wollner hält diesen Einwand gegen eine Schadstoff-Steuer allerdings für "irreführend". Schließlich handle es sich dabei um ein Instrument der "Klimagerechtigkeit", das – wenn überhaupt – erst in zweiter Linie "am Standard der sozialen Gerechtigkeit gemessen werden sollte". Sozialverträglich müsse eine solche Steuer natürlich dennoch gestaltet werden – zum Beispiel, indem man die Einnahmen für eine Stärkung der öffentlichen Infrastruktur verwende und Alternativen zum Auto schaffe.
Gerechtigkeit: Markt und Kapital brauchen Schranken
Über Gerechtigkeit und zentrale Regeln des Zusammenlebens werde in Europa derzeit wieder sehr grundsätzlich debattiert, beobachtet Katharina Gnath, "Utopien" und "große Systemfragen" stünden hoch im Kurs. Die Gedankenspiele des Juso-Vorsitzenden Kevin Kühnert, Unternehmen wie BMW zu kollektivieren, sind nur das jüngste Beispiel dafür. In welchem Wirtschaftssystem wollen wir leben? Wie regelt und kontrolliert die Politik das Geschäft globaler Internet-Konzerne? Welchen Status behält Eigentum, wenn es um Datenschutz und Urheberrechte in der digitalen Wirtschaft geht? Solche Fragen bewegen Europa, sagt Gnath. Aber im EU-Wahlkampf spielten sie bisher kaum eine Rolle.
Selbst drängende Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit, die in nationalen Debatten für viel Wirbel sorgten, fänden in den Programmen der Parteien für Europa erstaunlich wenig Resonanz, ergänzt Gabriel Wollner. Auf diese Weise gerate "eine Vision von Europa als Gerechtigkeitsprojekt" immer mehr aus dem Blick. Für einen neuen Anlauf, "Markt und Kapital im Namen der Demokratie und der Gerechtigkeit Schranken aufzuzeigen", fehle die Energie. Dabei läge gerade darin eine Chance, bekräftigt Wollner, "um den Populisten am anderen Ende des politischen Spektrums den Schneid abzukaufen."
(fka)
Das Buch zum Thema:
Twelve Stars. Philosophen schlagen einen Kurs für Europa vor
Übersetzt aus dem Englischen von Joachim Helfer, Karola Klatt und Kai Schnier
Bertelsmann Stiftung, Gütersloh 2019
264 Seiten, 15 Euro