Das Lukács-Archiv in Budapest steht vor dem Ende
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Von Budapest aus nahm Georg Lukács großen Einfluss auf die Neue Linke. Das sowjetische Modell des Kommunismus lehnte er ab. Nach seinem Tod im Jahr 1971 wurde in seiner Wohnung ein Archiv eingerichtet, dass der Orbán-Regierung nicht passt.
Anruf zwecklos: Trotz internationaler Proteste wurde das Archiv des marxistischen Philosophen Georg Lukács geschlossen. Was bleibt ist eine monotone Telefonansage und die kleine Wandtafel gleich neben dem Hauseingang am Belgrad Kai Nummer 2. Letztere erinnert an die Zeiten, als Lukács hier noch arbeitete und seine Interviews gab.
Treffpunkt der Dissidenten
Hier, direkt an der Donau, verbrachte der 1885 geborene Marxist die letzten 20 Jahre seines Lebens. Hier rief er die Bewegung der Dissidenz ins Leben, jene linksliberale Bewegung, die bis 1989 viel zur Liberalisierung des kommunistischen Regimes beigetragen hat.
Ihr gehörte eine Gruppe von Intellektuellen an, der sogenannte Kreis der Lukács-Schüler, die nach der politischen Wende auch in Deutschland bekannt wurden, wie etwa die Philosophin Agnes Heller oder der Schriftsteller György Konrád. 1971, nach dem Tod von Georg Lukács, ging diese Wohnung samt Bibliothek an die ungarische Akademie der Wissenschaften und wurde zum Archiv für Forschung und Lehre.
Wir treffen hier auf Péter Szigeti, den Sohn von József Szigeti, einem der engsten Freunde des Philosophen. Péter Szigeti ist selbst Philosoph und erklärter Marxist und hat hier bis zum letzten Tag im Lukács-Archiv gearbeitet. Von daher weiß er, wie man ins Treppenhaus kommt, hinauf in den fünften Stock. Weiter kommen wir aber nicht, denn die Eingangstür zur Wohnung bleibt für Besucher geschlossen.
Mit seinem Werk wirkt Lukács weiter
"Ja, das ist zur Zeit die große Diskussion", sagt Szigeti, "und darum wurde eine Lukács-Stiftung ins Leben gerufen. Zudem gibt es einen Mietvertrag, der nächstes Jahr ausläuft. Ich gehe davon aus, dass das das Ende ist. Die gesamte Dokumentation und die Bibliothek sind jetzt schon teilweise weggeschafft worden. Die Frage ist, ob wir diese Bibliothek jemals wieder zurück bekommen oder ob sie in der Akademie der Wissenschaften bleibt."
Denn einen Ort des Gedenkens an einen marxistischen Philosophen darf es in Budapest nicht geben. Das ist gegen die konservative Wertvorstellung der jetzigen ungarischen Regierung. Die Arbeit über die Philosophie von Georg Lukács geht jedoch weiter, versichert Szigeti.
"Ich und meine Forschungsgruppe der Budapester Universität ELTE sind gerade dabei, den Briefwechsel zwischen Lukács und István Mészáros herauszugeben. Es geht dabei um den Briefwechsel zwischen 1958 und 1971. Mészáros war der einzige Lukács-Schüler, der sich später nicht der liberalen Budapester Gruppe angeschlossen hat, obwohl er 1956 emigrieren musste."
Suche nach einem "Dritten Weg"
Georg Lukács setzte sich seit 1918 für eine sozialistische Transformation der Gesellschaft ein. Er war gegen jede Form von bürokratischer Diktatur nach sowjetischem Modell, verabscheute aber auch den Kapitalismus und suchte den so genannten "Dritten Weg", einen politischen Kurs zwischen kommunistischer Diktatur und kapitalistischem Liberalismus, erklärt Péter Szigeti:
"Lukács suchte einen Ausweg aus den Verbrechen des Ersten Weltkriegs, in dem zehn Millionen Menschen ihr Leben gelassen hatten. Dabei ging es ihm nicht darum, das Bürgertum einfach nur durch eine andere dominante Klasse zu ersetzen, sondern er stellte ethische Fragen und glaubte in der klassenlosen Gesellschaft eine historische Lösung finden zu können. Darum schloss er sich damals der Arbeiterbewegung an."
Der Belgrad Kai ist eine der befahrensten Straßen in Budapest, er liegt gleich neben der ehemaligen Marx-Universität und führt an der Donau entlang in die Innenstadt. Es ist laut hier und auch das Wohnhaus selbst ist im nüchternen Stil des Realsozialismus gehalten. Es war wohl hier an diesem Ort, an dem Georg Lukács prophezeite, wie sehr der Kapitalismus die nahe Zukunft beherrschen wird und wie sehr unser alltägliches Leben vom Warenkonsum geprägt und abhängen würde.
Sozialismus zwischen Plan- und Marktwirtschaft
Der dritte Weg, den Georg Lukács suchte, ist die Vision eines Sozialismus zwischen Plan- und liberaler Marktwirtschaft in einer Gesellschaft, die alles dafür tut, die Kluft zwischen Arm und Reich aufzuheben. Das erscheine vielen auch heute zu idealistisch, obwohl, so Péter Szigeti, unsere westliche Gesellschaft gerade jetzt tief in der Krise stecke.
Darum sei es ein Unding auf die große Idee von Sozialismus ganz verzichten zu wollen. Ganz im Gegenteil, es wäre jetzt an der Zeit zu sehen, was Lukács in Hinblick auf diesen Dritten Weg zu sagen habe.