Philosophische Orte

Ludwig Wittgenstein als Lehrer in Trattenbach

07:40 Minuten
Schwarz-Weiß-Aufnahme von Ludwig Wittgenstein, vor einer zerkratzten Wand stehen.
Die Dorfschule brachte ihm kein Glück: Der Philosoph Ludwig Wittgenstein auf einer Aufnahme von 1947. © picture alliance / dpa / Wittgenstein Archive Cambridge
Von Andrea Roedig |
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Nach dem Ersten Weltkrieg wollte Ludwig Wittgenstein von Philosophie nichts mehr wissen. Im österreichischen Feistritztal suchte er als Dorflehrer das einfache Leben – mit mäßigem Erfolg.
"Ludwig, Ludwig, was soll das bedeuten, du hättest vor, auf einer Schule auf dem Lande zu unterrichten?" In Derek Jarmans Filmbiografie über Ludwig Wittgenstein erntet der weltberühmte Philosoph erstaunte Reaktionen auf seine Rückzugspläne: "Das ist als würde jemand ein Präzisionsinstrument zum Öffnen von Kisten benützen."

Von Wien aus fährt der Zug ins Nirgendwo

Die Schule auf dem Land, von der in diesem Filmzitat die Rede ist, liegt im niederösterreichischen Feistritztal. Um dorthin zu gelangen nehme man von Wien aus den Zug ins 90 Kilometer entfernte Gloggnitz, von dort aus führt ein knapp dreistündiger Fußmarsch bis Otterthal.
Steil ist der Anstieg zuerst, mit atemberaubendem Blick auf das Rax-Massiv. Dann geht es wieder hinab ins Tal, und schließlich biegt eine Straße "scharf nach Westen ab, wird immer schlechter und schmäler und wir sind am End der Welt – in Trattenbach", so schrieb 1918 der Chronist Stephan Mautner. Heute ist die Straße besser ausgebaut, aber die Gemeinde Trattenbach mit ihren rund 500 Einwohnern liegt immer noch sehr abgeschieden zwischen dichten grünen Bergrücken.
Hierher hatte es im Jahr 1920 Ludwig Wittgenstein verschlagen – oder besser sollte man sagen: Er hatte sich hierhin geschlagen. Nach Krieg und Kriegsgefangenschaft, nach der Niederschrift des "Tractatus Logico Philosophicus" wollte Wittgenstein aufhören mit allem, vor allem mit der Philosophie.
Er war, wie man heute sagen würde, in einer Lebenskrise und suchte verzweifelt nach Klarheit, Reinheit, Askese in einer bescheidenen aber sinnvollen Tätigkeit in "ganz ländlichen Verhältnissen", wie er sagte. 31 Jahre alt war er damals, hatte seinen Anteil an dem immensen finanziellen Wittgenstein-Erbe restlos an seine Geschwister verschenkt und sich in Wien zum Volksschullehrer ausbilden lassen.

Gescheitert an den eigenen Idealen

Sechs Jahre lang, von 1920 bis 1926 dauerte Wittgensteins Versuch, auf dem Land als Lehrer zu arbeiten. Er wechselte mehrmals die Schulen, ging von Trattenbach nach Puchberg nach Otterthal – und bekannt ist, dass er seine Schüler und sich selbst hoffnungslos überforderte und mit seinen Bildungsidealen dramatisch scheiterte.
In Trattenbach erinnert heute der Name der Volksschule an Wittgenstein und ein kleines Museum im so genannten "Schachnerstüberl", einem kleinen, weiß getünchten denkmalgeschützten Bau, der damals als Nebengebäude zum ortsansässigen Wirtshaus gehörte. Hier hatte Wittgenstein sich in einem circa neun Quadratmeter kleinen Zimmer einquartiert.
Trattenbach war allerdings 1920 gar nicht mehr so sehr "Das Ende der Welt", wie Wittgenstein es sich vorgestellt hatte. Vielleicht ist es heute ruhiger dort als damals. Im Ort befand sich eine emsige Textilfabrik, der Sommer brachte Touristen, man feierte mit Tanzmusik - auch im Schachnerstüberl. Dem Einsamkeit suchenden Wittgenstein wurde die Gaudi wohl bald schon zu viel, sagt Ernst Schabauer, der Altbürgermeister von Trattenbach:
"Da haben Schüler nachmalig erzählt, hätte er auf der Fensterbank gesessen und Klarinette gespielt. Er konnt gut Klarinette spielen, nur diese Musik, diese ortsübliche Tanzmusik - rumtata, rumtata - des hat er nit, er hat eine Klassik gebraucht oder so."

Einsamkeit und Unverständnis

Im Sommer bietet Schabauer Führungen an. Das kleine Museum enthält nicht viele Gegenstände: Ein Katzenskelett, das Wittgenstein mit seinen Schülern zusammenbaute, zwei Schulbänke, und in der Mitte des Raumes steht, wie aus einem fernen Universum hineingeschwebt, ein mit leichter Gaze abgehängtes schlichtes, hölzernes Bett. Es stammt aus Wittgensteins früher Studienzeit in Cambridge und wurde von ihm selbst entworfen.
Die Kargheit des Ortes spiegelt eine traurige Geschichte vom Gefangensein. Wittgenstein hat die Landbevölkerung so wenig verstanden wie sie ihn. Er aß nicht im Gasthaus, er redete nicht mit den Menschen, denen er trotz der selbst gewählten Armut wie ein reicher Baron erschien. Und er überforderte die Schüler. Es gab Beschwerden, Wittgenstein wechselte die Schulen und landete schließlich im nahe gelegenen Otterthal.

Eine Ohrfeige und ihre Folgen

"In Otterthal, vom Land her hättens em wahrscheinlich aussi gschmissen, weil do hat er an Watschn gegeben, eine Ohrfeige", erklärt Schabauer. "Und der dürfte einerseits a bisserl a Handicap gehabt haben, Epilepsie oder so, zum Andern dürft er sich gerad mit einem Bleistift in der Hand abwehrend geschützt haben - und da ist Blut geflossen. Und zack ist er über Nacht und Nebel und ist nach Wien."
Besagter Schüler fiel nach der Ohrfeige angeblich in Ohnmacht, und das war der letzte Anstoß für Wittgenstein, den Dienst als Lehrer zu quittieren. Schläge im Unterricht waren damals offiziell schon verboten, aber dennoch auch bei anderen Lehrern gang und gäbe. Lange hörte man in Trattenbach und Otterthal nichts Gutes über den Philosophen, erzählt Silvia Stögerer, die heutige Direktorin der Volksschulen Trattenbach und Ottertal.

Romantisierung der einfachen Arbeit

Erst langsam wandelte sich das Bild, auch dank der Österreichischen Ludwig Wittgenstein Gesellschaft, die jährlich im nahe gelegenen Kirchberg am Wechsel internationale Symposien veranstaltet. Inzwischen erkennt man auch den touristischen Wert der Geschichte – Zitate aus dem Tractatus säumen einen Spazierweg am Rande von Trattenbach.
Als philosophischer Ort erzählt Trattenbach von der Romantisierung einfacher Arbeit, was nicht selten ist in der Philosophie. Nachdem er aus dem Feistritztal regelrecht geflohen war, blieb Wittgenstein noch für einige Zeit in Wien und ging schließlich als Stipendiat zurück nach Cambridge, wo der britische Philosoph Bertrand Russel und der Ökonom John Maynard Keynes schon auf ihn warteten.
Die Trattenbacher hatten in Wittgenstein den verrückten Sonderling gesehen, in Cambridge dagegen galt er als faszinierender Exzentriker. Gerecht werden ihm wohl beide Einschätzungen nicht.
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