Tullia d'Aragona und die Liebe in Florenz
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Nur die rein geistige Liebe ist Quelle des Göttlichen: So sahen es einige Renaissance-Denker im Anschluss an Platon. Die Philosophin Tullia d'Aragona hingegen verfasste um 1550 ein Plädoyer für Begehren und Sinnlichkeit, das bis heute nachwirkt.
Die Altstadt von Florenz Ende August: Zahlreiche Touristen drängen sich auf den Piazzas und in den Straßen zwischen Fassaden mächtiger Renaissance-Paläste, angelockt vom geschichtsträchtigen Zauber dieser Stadt. An jeder Ecke finden sich Spuren der vielen Künstler und Gelehrten, die hier gewirkt haben: Michelangelos David, eine Statue von Dante, eine Straße, die an den Philosophen Pico della Mirandola erinnert.
Eine aber sucht man hier vergeblich: Tullia d'Aragona.
Bewundert und angefeindet
"Denn erstlich bin ich eine Frau, und aus Gründen, die nur euch Philosophen bekannt sind, achtet ihr uns ja geringer als euresgleichen. Sodann besitze ich, wie ihr wohl wisst, nicht Bildung noch Gelehrsamkeit, nicht Witz noch Redekunst."
Als Tullia d'Aragona diese Zeilen Mitte des 16. Jahrhunderts in Florenz niederschreibt, hat sie sich mit ihrer Dichtkunst und Gelehrsamkeit bereits einen Namen gemacht, wird von vielen bewundert – von einigen aber auch als "Kurtisane" verachtet, denn Kurtisanen gelten als eine Art kultivierte Prostituierte, und weibliche Sexarbeit ist damals wie heute ebenso gefragt wie verpönt.
Letztlich sei der Begriff "Kurtisane" in der Renaissance ein Etikett für alle Frauen gewesen, die ein selbstbestimmtes Leben führten, erläutert die Philosophie-Historikerin Ruth Hagengruber:
"Die Kurtisane ist eine gebildete Frau. Das heißt, das sind Frauen mit einem relativ hohen Bildungsstand, die auch in relativ hohen Schichten so eine Art Cultural Entertaining machen. Und sie gehört eben zu diesem Berufsstand, wenngleich sie auch in einer bestimmten Zeit ihres Lebens heiratet, gerade um den Schmähungen, denen dieser Berufsstand unterworfen ist, zu entkommen."
Engagement für die Gleichstellung
Zu Beginn des 16. Jahrhunderts in Rom geboren, als Tochter einer Kurtisane und - mutmaßlich - eines Kardinals, erhält Tullia eine ausgezeichnete klassische Bildung, macht sich mit Literatur, Poesie und Philosophie vertraut, lernt mehrere Sprachen. Der weitere Verlauf ihres Lebens ist nur lückenhaft dokumentiert. Klar ist aber, dass sie oft ihren Wohnort wechselt, möglicherweise auch wegen der Anfeindungen, die ihr immer wieder begegnen.
Womöglich fließen diese Erfahrungen der Ausgrenzung auch in ihr wohl berühmtestes Werk ein, den "Dialog über die Unendlichkeit der Liebe", den sie ab 1545 in Florenz verfasst. Darin plädiert d'Aragona nicht nur selbstverständlich für die Gleichstellung von Männern und Frauen, sondern erörtert das Wesen der Liebe selbst: "Unser Zweifel ist also dieser: Ob es wohl möglich sei, mit Maß und Grenze zu lieben."
Das Genre der Liebesdialoge ist zu Tullias Zeit äußerst verbreitet: Sie orientieren sich an den gerade wiederentdeckten Dialogen Platons und interpretieren zugleich dessen antike Thesen neu. Im Zentrum steht dabei jeweils nicht nur die Frage, was denn Liebe sei und welche Arten der Liebe zu begrüßen oder zu verdammen sind, sondern auch, wie die Liebe und das Ewige, Göttliche zusammenhängen.
Aufwertung der körperlichen Liebe
Der wohl berühmteste dieser Dialoge stammt von dem Florentiner Neuplatoniker Marsilio Ficino und prägt bis heute unsere Vorstellung von 'platonischer Liebe', erklärt Hagengruber: "Er sagt nämlich: Ja, bei Platon geht es darum, dass die schönen Seelen einander lieben und dadurch das Unendliche – also Metaphysik: das Göttliche – erzeugen, das Ewige, das, was wir Menschen nicht sind. Das geht nur zwischen den Seelen, in denen die Rationalitäten sich einander zuwenden und das Körperliche ausblenden."
Dieses körperfeindliche Liebesideal korrespondiere mit der Abwertung von Sinnlichkeit, die auch in der Anfeindung von "Kurtisanen" zum Ausdruck komme, sagt Hagengruber. Das stehe in scharfem Kontrast zur gängigen Lebenspraxis der Renaissance: "Diese Männerwelt ist gebiased - insofern, als sie einerseits das Edle, Wahre und Nicht-Sinnliche idealisiert hat und andererseits sozusagen die maßlose Sinnlichkeit gelebt hat." Tullia d'Aragona dagegen versuche sich in ihrem Dialog an einer Versöhnung zwischen körperlicher Liebe und dem Ewigen, Göttlichen – und ihre Thesen wirken überaus modern.
Dazu Hagengruber: "Die sagt: Nein! Die Unendlichkeit der Liebe, so heißt ihr Dialog, beginnt im Irdischen, in der irdischen Liebe. Was sie macht, ist die Aufwertung des Irdischen, des Sexuellen. Sie sagt: Diese beginnt in der Lust, in der Begierde, sie ermöglicht überhaupt die Ewigkeit. Die Unendlichkeit der Liebe beginnt mit dem irdischen Begehren und ist fest an dieses gebunden. Und zugleich macht sie damit auch etwas auf, dass die Verantwortung für das Ewige, Gute und Schöne bei uns liegt und im Irdischen seinen Anfang findet. Ich würde natürlich sagen, dass sie damit auch viel näher ist an der platonischen Interpretation."
Den Kurtisanenschleier verweigert sie
Das Setting für ihren Dialog ist ein philosophischer Salon, den d'Aragona ab 1545 in ihrer – heute nicht mehr auffindbaren – Florentiner Villa etabliert und in dem sie zahlreiche wichtige Köpfe ihrer Zeit empfängt. Einer davon ist ihr Sparringpartner im Dialog: der renommierte Humanist Benedetto Varchi, Mitglied der Academia Fiorentina, die damals im Medici-Palast untergebracht ist, in der heutigen Via Cavour im Zentrum von Florenz. Auch dort weist keine Spur auf d'Aragona hin, obwohl sie damals wohl regelmäßig ein- und ausgegangen ist.
Trotz ihres Ansehens erhebt man, nicht zum ersten Mal, im Jahr 1547 Anklage gegen Tullia, weil sie den für Kurtisanen vorgesehenen gelben Schleier nicht trägt. Nur durch ein Hilfsgesuch an das Fürstenpaar Cosimo und Eleonora, in dessen Gunst sie steht, erwirkt Tullia schließlich eine Ausnahmegenehmigung: in Anerkennung ihres "seltenen Wissens über Poesie und Philosophie". Aus Dank widmet sie Cosimo ihren Dialog, der im gleichen Jahr erscheint – und der zahlreiche Leserinnen und Leser findet, nicht nur unter ihren Zeitgenossinnen.
Damals breite Wirkung – heute verdrängt
Aus der offiziellen Philosophiegeschichte jedoch wurde d'Aragona – wie so viele andere Denkerinnen – nachhaltig verdrängt. Höchste Zeit, sich ihrer zu erinnern, sagt Hagengruber:
"Wenn wir die Texte der Frauen aus der Philosophiegeschichte herauslassen, ist es, als hätte Newton seine Berechnungen nur mit jedem zweiten Planeten durchgeführt. Denn die Texte der Frauen wurden intensiv gelesen, sie haben auch sehr hohe Auflagezahlen erreicht in ihrer Zeit. Sie gehören mit zu den erfolgreichsten Texten - und das gilt für die ganze Philosophiegeschichte. Das heißt, wir haben hier wirklich eine subterrane Philosophie- und Wirkungsgeschichte, die bis heute nicht zur Kenntnis genommen wurde."