Walter Benjamin in Paris
Der Philosoph Walter Benjamin lebte von 1933 bis 1940 als Exilant in Paris. Hier arbeitete er an seiner Geschichtsphilosophie des 19. Jahrhunderts - dem "Passagenwerk", das unvollendet blieb. Jürgen König hat in der französischen Hauptstadt Wohn- und Lebensorte des Denkers aufgespürt. Was ist von Benjamin geblieben?
Sieben Jahre verbrachte Walter Benjamin in Paris: 1933 dorthin geflüchtet, verließ er die Stadt 1940 – wiederum auf der Flucht vor den Nazis. Mehr als ein Dutzend Quartiere hat er bezogen: Von Max Horkheimer, der mit seinem Institut für Sozialforschung nach New York emigriert war, bezog Benjamin ein geringes Gehalt. Wenn es reichte, wohnte Benjamin in kleinen Hotels oder Apartments. Er fand Zuflucht bei Freunden oder Bekannten, auch seine Schwester Dora nahm ihn immer wieder auf.
In seiner letzten Wohnung blieb Walter Benjamin zwei Jahre: in der Rue Dombasle Nr. 10 - im 15. Arrondissement im Süden der Stadt. Ein Haus voller Exilanten: Der Schriftsteller Arthur Koestler war sein Nachbar ebenso der Berliner Nervenarzt Fritz Fränkel, der Walter Benjamin in Berlin diverse Haschisch-Erfahrungen ermöglicht hatte - sowie ein jüngeres Emigrantenpaar, Eva und Hans Ekstein. Dessen Schwester wird Walter Benjamin 1940 über die Pyrenäen führen.
Seit neun Jahren erinnert eine Gedenktafel an Benjamins Aufenthalt in dem gut einhundert Jahre alten, ziemlich plump wirkenden Haus - unten: ein Laden für Hundebedarf. Er hat geschlossen. Im August wirkt die kleine, ohnehin alles andere als pittoreske Rue Dombasle menschenleer, verlassen.
Erdmut Wizisla, der Leiter des Walter Benjamin-Archivs an der Berliner Akademie der Künste:
"Die Fotografin Lore Krüger, die hat in dem Haus gewohnt, in dem Benjamin lebte, in der Rue Dombasle - und hat Benjamin als einen Waldgeist beschrieben, der, wenn man vormittags klingelte, im braunen Bademantel mit wirren Haaren und wirrem Blick öffnete.
Er ist ein unglaublich faszinierender Denker, weil er so einen großen Einzugsbereich hat. Er ist ein subtiler Literaturkritiker, er ist ein Autor selber, und dann kommt - was wir heute Kulturphilosophie nennen - dazu, das geschichtsphilosophische Denken und der Versuch, eine Stadt wie Paris zu beschreiben."
Benjamin, der "Waldgeist", der die Nacht hindurch arbeitete und am frühen Morgen immer ein Bad nahm. An seinem "Versuch, eine Stadt wie Paris zu beschreiben", arbeitete er schon seit 1927 und sollte es bis zu seinem Tod 1940 tun.
Benjamin, der "Waldgeist", der die Nacht hindurch arbeitete und am frühen Morgen immer ein Bad nahm. An seinem "Versuch, eine Stadt wie Paris zu beschreiben", arbeitete er schon seit 1927 und sollte es bis zu seinem Tod 1940 tun.
Ganze Tage verbrachte er in der Bibliothèque Nationale, sammelte in mikroskopisch kleiner Schrift Tausende von Notizen und Zitaten. Das Buch seines Lebens wäre es geworden: das "Passagenwerk". Die "Passagen" wurden in Paris erfunden, im frühen 19. Jahrhundert. Das Bürgertum war zu Geld gekommen, um es auszugeben, wurden schmale Gassen, die zwischen den Boulevards verliefen, überdacht und ausgebaut.
1839 führte man beim Promenieren eine Schildkröte mit sich
Kaufleute eröffneten Geschäfte für Luxusartikel, später kamen Handwerker hinzu, Künstler bezogen Ateliers. 1828 gab es in Paris 137 solcher "Passagen". Benjamin rückt sie in den Mittelpunkt seines Versuchs einer Geschichtsphilosophie des 19. Jahrhunderts. Sie auch wirklich zu schreiben, dazu kam er nicht mehr: Sein "Passagenwerk" blieb eine Sammlung von eigenen Beobachtungen, Zitaten, Aphorismen, Maximen, Gedankensplittern, Andeutungen, Halbsätzen, Fragen.
24 "Passagen" sind erhalten geblieben. Wer sie durchwandert, findet noch, was Benjamin schon sah: Marmorfußböden und Kassettendecken, kunstvoll geschliffenes Glas, Bögen und Arkaden. Vom einstigen Charakter des Luxuriösen und Außergewöhnlichen aber ist nichts übriggeblieben. "1839", schreibt Benjamin, "war es elegant, beim Promenieren eine Schildkröte mit sich zu führen. Das gibt einen Begriff des Flanierens in den Passagen."
24 "Passagen" sind erhalten geblieben. Wer sie durchwandert, findet noch, was Benjamin schon sah: Marmorfußböden und Kassettendecken, kunstvoll geschliffenes Glas, Bögen und Arkaden. Vom einstigen Charakter des Luxuriösen und Außergewöhnlichen aber ist nichts übriggeblieben. "1839", schreibt Benjamin, "war es elegant, beim Promenieren eine Schildkröte mit sich zu führen. Das gibt einen Begriff des Flanierens in den Passagen."
Heute führt niemand mehr Schildkröten mit sich, kaum sind noch Passanten da, von Flaneuren zu schweigen. Nur mehr wenige elegante Geschäfte: wenig Kunst, viel Kommerz. In einem Laden für Touristenbedarf allerlei Eiffeltürme in den Nationalfarben, Tassen im Sacre-Coeur-Look, Feuerzeuge mit hüllenlosen Folies Bergère-Tänzerinnen – eine Verkäuferin schaut mich freundlich an, winkt aber sofort ab, als sie mein Mikrophon sieht. Ob ich eine Interviewerlaubnis für die Passagen hätte? – Äh, sage ich, nein.
"Das ist eine private Passage, wissen Sie, und die sind hier streng! Und ich bin nur eine Verkäuferin."
Das Erlebnis wiederholt sich: In den Pariser Passagen Öffentlichkeit herzustellen, ist heute genehmigungspflichtig. Einen Buchhändler finde ich, Jean-Luc Longlaude, seine "Librairie du Passage" ist ein Antiquariat mit prächtigen alten Buchbeständen, das Interieur hat noch etwas von der Eleganz früherer Zeiten. Ob die Passagen immer noch ein besonderer Ort seien, frage ich ihn.
"Ja, unbedingt, das Licht ist hier ein anderes, man ist auch umgeben von ganz anderen Tönen und Gerüchen. Es ist eine andere Welt! Sie ist noch geschützt! Aber nicht mehr für lange."
Weil Geschäfte wie das da drüben – und er zeigt auf einen Laden mit Touristenbedarf – weil solche Geschäfte die traditionellen Boutiquen ersetzen. Aber das sei überall das Gleiche.
Etwas Melancholisches umgibt Jean-Luc Longlaude. Viele Kunden scheint er nicht mehr zu haben.
"Im Moment kommt niemand. Wegen der Attentate, der Streiks… wegen Frankreich eben, voilà."
Über das Melancholische kommen wir auf Walter Benjamin.
"Ich hab' den ganzen Text von Walter Benjamin gelesen, natürlich. Aber…"
Aber?
"Benjamin ist sehr in Mode, aber sein Text ist nicht brillant. Oder sagen wir: Es gibt bessere!
Warum der Text ihm nicht gefalle, frage ich. "Na einfach so!", sagt er, "manche Sache gefallen einem eben und andere eben weniger, hum. Meine Meinung kennen Sie nun!"
Die Bars und Restaurants sind so gut wie leer. Bei einem Café au lait finde ich bei Benjamin den Satz: "Jede Epoche träumt ja nicht nur die nächste, sondern träumend drängt sie auf das Erwachen hin."
"Das ist eine private Passage, wissen Sie, und die sind hier streng! Und ich bin nur eine Verkäuferin."
Das Erlebnis wiederholt sich: In den Pariser Passagen Öffentlichkeit herzustellen, ist heute genehmigungspflichtig. Einen Buchhändler finde ich, Jean-Luc Longlaude, seine "Librairie du Passage" ist ein Antiquariat mit prächtigen alten Buchbeständen, das Interieur hat noch etwas von der Eleganz früherer Zeiten. Ob die Passagen immer noch ein besonderer Ort seien, frage ich ihn.
"Ja, unbedingt, das Licht ist hier ein anderes, man ist auch umgeben von ganz anderen Tönen und Gerüchen. Es ist eine andere Welt! Sie ist noch geschützt! Aber nicht mehr für lange."
Weil Geschäfte wie das da drüben – und er zeigt auf einen Laden mit Touristenbedarf – weil solche Geschäfte die traditionellen Boutiquen ersetzen. Aber das sei überall das Gleiche.
Etwas Melancholisches umgibt Jean-Luc Longlaude. Viele Kunden scheint er nicht mehr zu haben.
"Im Moment kommt niemand. Wegen der Attentate, der Streiks… wegen Frankreich eben, voilà."
Über das Melancholische kommen wir auf Walter Benjamin.
"Ich hab' den ganzen Text von Walter Benjamin gelesen, natürlich. Aber…"
Aber?
"Benjamin ist sehr in Mode, aber sein Text ist nicht brillant. Oder sagen wir: Es gibt bessere!
Warum der Text ihm nicht gefalle, frage ich. "Na einfach so!", sagt er, "manche Sache gefallen einem eben und andere eben weniger, hum. Meine Meinung kennen Sie nun!"
Die Bars und Restaurants sind so gut wie leer. Bei einem Café au lait finde ich bei Benjamin den Satz: "Jede Epoche träumt ja nicht nur die nächste, sondern träumend drängt sie auf das Erwachen hin."
Und ich frage mich: Gilt der Satz heute noch? Träumen wir noch von einer Zukunft, können sie womöglich kaum erwarten? Und ich lese weiter: "Mit der Erschütterung der Warenwirtschaft beginnen wir, die Monumente der Bourgeoisie als Ruinen zu erkennen, noch ehe sie zerfallen sind."
Die Passagen als "Monumente der Bourgeoisie" - sie sind noch nicht zerfallen, aber als "Ruinen" zu erkennen, das sind sie schon.