Selbstbestimmung geht auch genmanipuliert
Die Empörung ist global: Der chinesische Genetiker Hen habe mit der angeblichen Veränderung des Erbguts von zwei Babys die Büchse der Pandora geöffnet. David Lauer sieht das anders: Genmanipulation hindert uns nicht an Selbstbestimmung.
Und plötzlich hat die Zukunft begonnen: Zum ersten Mal haben Babys mit einem von Menschenhand optimierten Erbgut das Licht der Welt erblickt. Die Empörung im Kreis der Wissenschaft ist einhellig: "Verrückt" und "unverantwortlich" sei das Experiment des chinesischen Genetikers He. Doch muss man genau hinhören. Denn He wird nicht wegen des Eingriffs in die menschliche Keimbahn kritisiert, sondern nur deswegen, weil er die manipulierten Embryonen zur Welt kommen ließ. Die eingesetzte Technik sei zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht ausgereift, Risiken und Langzeitfolgen unüberschaubar. Ein schlagendes Argument gegen Hes inakzeptables Vorgehen. Zugleich aber auch ein Argument für die Fortsetzung derartiger Forschung – mit dem Ziel, die jetzt noch unbeherrschbare Technik irgendwann gefahrlos einsetzen zu können.
Arendt: Jeder Mensch ist ein Neuanfang
Aber halten wir optimierende Eingriffe in das Erbgut menschlicher Wesen überhaupt für ein erstrebenswertes Ziel? Verfolgt man diese grundsätzliche Frage, so stößt man bei Hannah Arendt auf den Begriff der Natalität oder Gebürtigkeit. Natalität, das ist Arendts Name für den radikalen Neuanfang, den jedes Menschenleben bedeutet. Ja, die Zukunft hat schon begonnen und sie beginnt ständig neu: in Gestalt jedes Neugeborenen, das zur Welt kommt.
Natalität ist für Arendt die Grundlage der Freiheit und der Würde des Individuums. Sie ist das Recht, ein neuer Anfang zu sein – ein Zweck in sich selbst, nur für sich selbst verantwortlich.
Habermas: Genmanipulation als Fremdbestimmung
Jürgen Habermas hat Arendts Begriff vor einigen Jahren aufgegriffen, um zu begründen, worin die grundsätzliche Gefahr menschlicher Eingriffe in das Erbgut Neugeborener liege. Ein Mensch, der erkennen müsse, dass Teile seines Erbgutes nach den Präferenzen anderer programmiert wurden, müsse seine Natalität und damit seine Würde als eingeschränkt erleben. Er könne sich nicht mehr als voraussetzungslosen Neuanfang verstehen, und damit nicht mehr als Autor des eigenen Lebens.
Eine starke Überlegung. Aber es ist nicht klar, ob sie unausweichlich ist. Jeder Mensch erkennt irgendwann, dass er zu wesentlichen Teilen ist, wer er ist, weil andere Menschen ihn in einer bestimmten Weise haben wollten. Er ist übersät mit den Fingerabdrücken seiner Eltern, seiner Erzieher, seines Milieus. Doch er kann sich zu diesen Prägungen kritisch verhalten, sich zu ihnen bekennen oder sich von ihnen befreien.
Genmanipulation hindert uns an Selbstbestimmung nicht
Wenn es nun möglich würde, das Erbgut künftiger Kinder nach den persönlichen Vorlieben der Eltern zu designen, so würde das sicherlich besonders tiefe und unauslöschliche Fingerabdrücke auf der Identität der Nachkommen hinterlassen. Aber auch die Fingerdrücke, die wir durch bloße Sozialisation mit uns herumtragen, sind häufig so gut wie nicht mehr loszuwerden. Warum sollte man also gegenüber den elterlichen Fingerabdrücken im Erbgut nicht genauso auf kritische Distanz gehen können wie gegenüber dem elterlich geprägten Charakter oder Geschmack? Das wäre nur dann unmöglich, wenn unsere Gene uns unentrinnbar determinierten. Nach allem, was wir wissen, tun sie das nicht. Der Erfindergeist hingegen, mit dem der Mensch seinen vermeintlichen biologischen Determinanten immer wieder ein Schnippchen schlägt, ist nicht klein zu kriegen.
So ließe Arendts Idee der Natalität sich also auch auslegen – anders als bei Habermas. Nicht im Sinne einer Warnung vor dem Ende des autonomen Subjekts, sondern im Sinne einer humanistischen Zuversicht: Die Natalität ist stark in uns, und kein Dr. He wird daran etwas ändern. Die Zukunft hat schon begonnen, aber sie bleibt offen.