Aufklärung statt Autoritarismus
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Das EU-Parlament hat diese Woche ein Verfahren gegen Ungarn gefordert. Der Vorwurf: Das Land unterlaufe Rechtsstaat und Demokratie. Zentrale Ideale der Aufklärung sind gefährdet - doch auch die EU selbst muss nachbessern, kommentiert Georg Bertram.
Die Aufklärung ist eine der großen Errungenschaften Europas. Ihr Grundzug liegt in folgendem Gedanken: Nichts gilt einfach, weil es von einer Autorität behauptet wird, die die Macht hat. All das, was aus Sicht welcher Autorität auch immer gelten soll, kann kritisch befragt werden – wobei man nicht einfach kritisieren kann, was man will, sondern dafür seinerseits gute Gründe braucht. Nach Kants berühmtem Wort führt eine solche kritische Befragung zum "Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit". Aus Kants Perspektive ist die Kritik von Autoritäten das zentrale Anliegen aufgeklärten Denkens.
Hat das Projekt der Aufklärung zunächst vor allem auf die Religion gezielt, gilt sein Anspruch doch genauso für alle anderen Aspekte des gesellschaftlichen Lebens – besonders auch für die Politik. Aufgeklärt ist Politik dann, wenn es grundsätzlich immer möglich ist, politische Entscheidungen in wirkungsvoller Weise kritisch zu hinterfragen und wenn die, die solche Entscheidungen treffen, grundsätzlich in der Pflicht sind, sich für sie zu rechtfertigen – auf die Gefahr hin, dass sie die Macht verlieren, wenn ihnen dies nicht gelingt.
Orbán verweigert sich vernünftiger Kritik
Es ist insbesondere dieses Ideal einer aufgeklärten Politik, das von der Regierung Viktor Orbáns verletzt wird. Ein autoritäres und illiberales Regime, wie das der Fidesz-Partei in Ungarn, will sich gegen alle vernünftige Kritik immunisieren. Das hat nicht zuletzt der Auftritt von Orbán im EU-Parlament wieder einmal eindrucksvoll belegt. Es ist wichtig, dass Europa genau hier eine seiner großen Errungenschaften verteidigt.
Nun mag man einwenden, dass die Aufklärung doch seit langem für ihre problematischen Seiten bekannt ist. In ihrem Namen ist Herrschaft ausgeübt und Gewalt gerechtfertigt worden – nicht zuletzt in der bitteren Geschichte des Kolonialismus. Theodor W. Adorno und Max Horkheimer haben der Aufklärung in diesem Sinn ihre Dialektik vorgerechnet: dass sie, um es wieder mit Kant zu sagen, selbst Unmündigkeit hervorruft. Autoritätskritik droht ihrerseits zur Autorität zu werden.
Die Aufklärung auch gegen sich selbst verteidigen
Was das real bedeutet, kann man in der europäischen Politik der letzten Jahre unter anderem an der rigiden Sparpolitik sehen, die gegen die Interessen der Jugend Südeuropas durchgesetzt wird. Die Vernunft erweist sich immer wieder denen gegenüber als Autorität, die ihrer Stimme im Rahmen gesellschaftlicher Zusammenhänge kein Gehör verschaffen können. Das ist sehr problematisch. Und dennoch gilt es, die Aufklärung mit aller Macht zu verteidigen – auch und gerade gegen ihre eigenen Schattenseiten. Wo Aufklärung zu neuen Autoritäten führt, da hilft nur die kritische Befragung dieser neuen Autoritäten – also mehr Aufklärung.
Es gehört zu den absurden Seiten der Entscheidung, die das EU-Parlament am Mittwoch getroffen hat, dass es sich nur um eine Forderung handelt. Nun ist es am Ministerrat, ein Verfahren gegen Ungarn zu diskutieren und tatsächlich mit Konsequenzen zu verbinden. Der Empfehlung des Parlaments nachkommen, muss der Rat nicht. De facto hat das EU-Parlament nicht die Macht, die Ideale der Rechtsstaatlichkeit und grundlegender politischer Freiheiten wirkungsvoll durchzusetzen.
Genau dieser Defekt der politischen Konstruktion Europas aber macht die Notwendigkeit einer aufgeklärten Politik umso deutlicher. Es muss der EU vorgehalten werden können, dass die Vernunft-Kontrolle von Autorität, die sie bei Ungarn anmahnt, auch bei ihr selbst noch nicht ausreichend realisiert ist. Europa muss seinem eigenen Ideal noch mehr gerecht werden. Und es muss denen, die zu Europa gehören wollen, abverlangen, dass sie diesem Ideal folgen.