Warum wir eine kosmische Wende brauchen!
Die Raumsonde Voyager 2 hat unsere Heliosphäre verlassen. Im Geiste haben wir die kosmische Wende aber längst noch nicht vollzogen. Das aber ist überfällig, meint Wolfram Eilenberger, und befreiend.
Fast unbemerkt von der Öffentlichkeit untersuchten vergangene Woche zwei frei im All schwebende russische Kosmonauten ein gerade einmal zwei Millimeter großes Loch an der Außenwand ihrer Sojus-Kapsel. Ein weiterer Meilenstein der Raumfahrt. Nur 485 Millionen Kilometer entfernt war wenige Tage zuvor die NASA-Raumsonde "Insight" punktgenau auf dem Mars gelandet. Ihre Außenmikrofone senden seither Aufnahmen davon, wie es sich so anhört, auf dem roten Bruderplaneten zu weilen: ein raues, rhythmisch unruhiges Wüstenwehen – die Symphonie der Ewigkeit.
"Nein, wir sind nicht allein"
Zeitgleich und weitere 18 Milliarden Kilometer in den Weltraum hinein verließ, nach 41-jähriger Reise, die Raumsonde Voyager 2 endgültig unsere Heliosphäre. Noch immer funkt sie Signale zurück zur Erde und tritt nun, mit allerlei goldenen Informationsplatten über unsere eigenwillige Lebensform bestückt, die offene Reise in den interstellaren Raum an. Also hinein in ein All, das nach allem, was wir nunmehr wissen, aus mehreren Hundert Milliarden Galaxien besteht. Wobei jede Galaxie mehrere Hundert Milliarden Sonnen zählt. Und man grob davon ausgeht, auf jede Sonne komme mindestens ein Planet. Mit anderen Worten: Alles ist dort erleuchtet! Und nein: Wir sind nicht allein.
Noch immer indes scheint das Wissen um die wahren Dimensionen des Universums weitgehend spurlos an unserem Selbstverständnis, unserem ethischen wie auch religiösen Empfinden vorbeizugehen. Der kopernikanischen Wende unseres Weltbildes ist bis heute keine kosmische gefolgt. Womöglich nur zu verständlich. Wie hohl muss etwa die Rede vom Menschen als "Krone der Schöpfung" im Angesicht dieses überreich bestückten Kosmos erscheinen? Wie abwegig die Idee, gerade hier auf Erden sei vor gerade einmal 2000 Jahren etwas heilsgeschichtlich absolut Entscheidendes geschehen? Ja selbst die ehrlich gemeinte, zeittypische Sorge um die Zukunft allen Lebens sowie den Verlust der Artenvielfalt erscheint im Angesichte des erschlossenen Horizonts als aufs Kleinlichste beschränkt.
Auserwählter Planet? Abwegig!
Ist es doch, wie der Philosoph Hans Blumenberg einst festhielt, die allzu menschentypische Sehnsucht jeder Generation, gerade in ihrer Lebenszeit werde das historisch eigentlich Wichtige, ja absolut Entscheidende geschehen. Gerade jetzt und hier ginge es um einfach "alles"! Eine endzeitliche Relevanzillusion, die nach Blumenberg nichts anderes als die diabolische Kehrseite unseres beständig verdrängten Bewusstseins um die wahre Weite der irdischen und letztlich kosmischen Zeit ist.
Mit dem Wissen, das wir mittlerweile von unserer Stellung im Kosmos haben, zeigt sich nun selbst die Vorstellung, auf dieser Erde werde sich im Hinblick auf das, was man gemeinhin "Leben" oder "Bedeutung", was man "Heils-" oder auch "Leidensgeschichte" nennt, überhaupt jemals Entscheidendes ereignen, als vollends groteske Abwegigkeit. Was glauben wir denn, wer wir in Wahrheit sind: etwa der auserwählte Planet?
Kosmische Gelassenheit
Kaum. Denn rein kosmisch gesprochen, leben wir hier in einem gerade einmal zwei Millimeter großen Raumzeitlöchlein, das sich vor ein paar Milliarden Jahren rein zufällig geöffnet haben mag – und sich schon recht bald wieder schließen wird. Das sind wir.
Ein derart aufgeklärtes, geweitetes Bewusstsein muss uns übrigens weder gleichgültig noch zynisch zurücklassen. Es könnte sich, im Gegenteil, von ansteckender Heiterkeit und sorgender Tatlust erfüllt finden. Aus reiner Freude, dass es uns überhaupt gibt! Dass wir da und dabei sein dürfen! Gerade hier und jetzt, in diesem wunderreichen Zeitraum des kosmischen Advents.