Philosophischer Kommentar zum Tempo-Limit

Je schneller, desto freier?

04:17 Minuten
Eine leere Autobahn.
Ohne Tempolimit über die Autobahn: Ist das Freiheit? © EyeEm / Michael J Berlin
Von Marie-Luisa Frick |
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Die Diskussion um ein mögliches Tempolimit auf deutschen Autobahnen bringt viele von null auf hundertachtzig. Ist die Aufregung dem Thema angemessen? Die Philosophin Marie Luisa Frick hat da ihre Zweifel.
Der Vorstoß der Regierungskommission zur Mobilität, ein generelles Tempolimit auf Autobahnen einzuführen, das Deutschland als einziges Land in der EU nicht kennt, bewegt die Gemüter. Von einer letzten Freiheitsbastion in einem überregulierten Staat ist ebenso die Rede wie von Imperativen der Vernunft. Und auch mit der - verfassungstreuen US-Amerikanern heiligen - Freiheit, Waffen zu tragen, wurde die deutsche Anomalie verglichen, um die scheinbar irrationale Liebe "der Deutschen" zu freier Fahrt zu unterstreichen.

"Fehlende Tempolimits sind selten ein Indikator der Liberalität"

Als Österreicherin darf ich bestätigen: Die Abwesenheit eines Tempolimits auf deutschen Autobahnen fasziniert. Als ich unlängst mit einem Freund aus den Vereinigten Staaten über die Grenze gefahren bin und ihm erklärte, ab nun können wir fahren so schnell wir wollen, ganz legal, staunte er nicht schlecht. So etwas ist schließlich nicht einmal im "Land der Freiheit" möglich.
Porträt der Philosophin Marie-Luisa Frick.
Marie-Luisa Frick, Philosophin.© imago / Horst Galuschka
Fehlende Tempolimits auf Autobahnen sind daher selten ein Indikator für Liberalität. Ist dann der diskursive Energieeinsatz diesem Thema angemessen? Zugespitzt formuliert: Warum stören sich nicht mehr Deutsche an Einschränkungen relevanterer Freiheiten, bestehende und solche, die sich immerhin andeuten? Was bedeutet es zum Beispiel für offene Gesellschaften, wenn Regierungen und jüngst die EU-Kommission, sich dafür zuständig erklären, "Falschinformationen" in Netz zu bekämpfen? Und was schließlich ist mit Konditionierungen durch "bloß" soziale Zwänge etwa zur Fehlerlosigkeit, die nicht weniger als unsere Freiheit zum Selbstsein berühren?

Geht es wirklich um Grundsätzliches?

Man kann angesichts der großen Begriffe wie Vernunft und Freiheit, die Befürworter und Gegner eines generellen Tempolimits bemühen, leicht den Eindruck gewinnen, hier gehe es um etwas Grundsätzliches, als stünden sich eine liberale und antiliberale Position unversöhnlich gegenüber.
Tatsache ist aber: Jene, die für eine Geschwindigkeitsbegrenzung eintreten und jene, die sie ablehnen, argumentieren vom geteilten Boden des liberalen Grundprinzips aus: Dem Einzelnen soll alles erlaubt sein, was andere nicht schädigt – grundgelegt und gegen den Zeitgeist verteidigt von John Stuart Mill in "On Liberty" (1859). In seinen Worten ist die "einzige Freiheit, die diesen Namen verdient, das Recht, unser Glück auf unsere eigene Weise zu verfolgen, solange wir nicht anderen das ihrige verkümmern."
Worin die Meinungen indes auseinandergehen, ist in der Einschätzung, ob ein Tempolimit Schaden überhaupt ausreichend reduzieren kann bzw. worin dieser Schaden genau besteht. Hier geht es selbstverständlich um Interessen, aber auch um Folgenabschätzungen, die nur mit wissenschaftlichen Methoden, und selbst dann nur bedingt getroffen werden können.

Auch Freiheiten lassen sich abwägen

Zwar gibt es Hinweise, die etwa einen Rückgang von Verkehrstoten durch ein Tempolimit nahelegen. Ob eine Abgasersparnis aber den gegenwärtigen Klimawandel tangiert, ist schon ungewisser. Und auch die jüngst zu Tage getretene Meinungskluft zwischen Lungenfachärzten hinsichtlich der Grenzwerte für Feinstaub und Stickoxide zeigt die Grenzen wissenschaftlicher Gewissheit.
Wie nun soll "vernünftigerweise" die positive Freiheit zum Schnellfahren gegen die negative Freiheit von möglichen schädlichen Konsequenzen des Schnellfahrens gewogen werden? Ein erster Schritt wäre sich zu fragen, wieviel vom eigenen Glück tatsächlich daran hängt, sein Auto "voll auszufahren". Auch sollten wir hinterfragen, wo die Freiheit, die Fahrgeschwindigkeit auf Autobahnen selbst zu wählen, im Verhältnis zu anderen Freiheiten steht, deren Einschränkung offenbar selbstverständlicher hingenommen wird. Frei nach Goethe: Niemand ist mehr Sklave, als der sich im Kleinen für frei hält, ohne es im Großen zu sein.
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