Merkels dunkle Wahlverwandtschaft
Die Union von CDU und CSU sollte aufhören, von einer "Schicksalsgemeinschaft" zu sprechen, fordert Wolfram Eilenberger. Die Politiker sollten "lieber den offenen Bruch wagen, als den eigenen Machterhalt im Namen des Schicksals zu sichern."
Das Schicksal, wir wissen das, ist ein mieser Verräter. Sonderlich in Zeiten der Krise. Wie furchtbar ernst es um den Zustand unserer Regierungskoalition bestellt ist, offenbart sich deshalb nirgendwo klarer als in der beschwörenden Mobilisierung des Begriffs der "Schicksalsgemeinschaft". Im Namen der Mäßigung und moderierenden Vernunft wurde er in letzten Tagen von leitende Gestalten der CSU wie CDU ins politische System eingespeist – und zwar ausnahmslos mit Verweis auf die besondere, historische "Verantwortung", die man gegenüber Kontinent, Land und Volk gerade jetzt trage. Um jeden Preis gelte es deshalb den drohenden Bruch der Fraktionsgemeinschaft zwischen CDU und CSU zu vermeiden. Und damit das Ende der Großen Koalition. Und damit auch das Ende der Kanzlerschaft Merkel.
Ein demokratischer Unbegriff par excellence
Das Schicksal – wer kann dazu schon nein sagen? Nun, niemand kann es. Denn das ist ja, nicht wahr, der eigentliche Witz am Schicksal. Dass es uns gerade keine Wahl oder gar Entscheidung lässt, sondern in denkbar größter Freiheitsferne seine ganz eigenen Weg geht und nimmt. Es lässt sich mit anderen Worten kein politischer Begriff denken, der in einer offenen Gesellschaft abgründiger wirkte als der des "Schicksals". "Schicksalsgemeinschaft" ist dabei der demokratische Unbegriff par excellence. Er hat mit Mäßigung und Moderation rein gar nichts zu tun. Vor allem aber schließt er den Menschen wesensgemäß davon aus, das zu tun, was ihm gerade als politisches Wesen in erster Linie aufgegeben ist: Verantwortung für das je eigene Handeln zu übernehmen.
Das Schicksal, so hielt es Walter Benjamin 1923 in seinem prophetisch-politischen Essay "Goethes Wahlverwandtschaften" fest, "das Schicksal kennt kein Schuld, nur Sühne". Vor allem führt eine Schicksalsrhetorik, wie Benjamin mit Blick auf die schweren Instabilitäten der Weimarer Republik mahnte, mutmaßlich im freiem Bunde vereinigte Parteien zwangsläufig in einen mutlosen Zustand des "schuldlos-schuldhaften Verweilens". Es geht dann nicht mehr vor. Es geht nicht mehr zurück. Nichts eint mehr wirklich. Jeder fühlt sich unverstanden. Wie in einer schlechten Ehe. Präziser als mit Benjamins "Wahlverwandtschaften" lässt sich der Zustand der Großen Koalition im Sommer 2018 nicht beschreiben: Anstatt den Mut zur befreienden Entscheidung zu suchen, findet man sich nun schon seit Jahren mit einen Zustand des "schuldlos-schuldhaften Verweilens" und Lavierens ab.
Lieber den offenen Bruch wagen
Auch die Folgen solch eines entleerten Bundes legt Benjamin in seinem Essay klar aus: Er befördert, gerade im politischen Raum, letztlich das Wiedererstarken mythischer Kräfte, Denkmuster und Dynamiken. Er animiert also Denkmuster demokratiefeindlicher Extremisten, die sich dann schon bald – und zwar im Namen des "Schicksals" und der "Vorsehung" – als neue Heilsgestalten etablieren können.
Moral: Sofern Wahlmöglichkeiten und vernünftige Lösungen vorliegen, muss man sie in freier Selbstbestimmung gemeinsam suchen. Ist dies aber politisch nicht mehr gangbar, lieber den offenen Bruch wagen, als den eigenen Machterhalt im Namen des Schicksals zu sichern. Denn ein solches Sprechen ist nicht etwa die Rettung für eine offene Gesellschaft, sondern deutlichstes Symptom ihrer drohenden Aushöhlung.