Wolfram Eilenberger ist Philosoph, Publizist, Schriftsteller und ehemaliger Chefredakteur des "Philosophie Magazins". Nach seinem Bestseller "Zeit der Zauberer. Das große Jahrzehnt der Philosophie. 1919-1929", erschien 2020 von ihm "Feuer der Freiheit. Die Rettung der Philosophie in finsteren Zeiten. 1933-43".
Philosophischer Kommentar zur Ampelkoalition
Unter diesem dunklen Himmelszelt kommt alles Gestalten an seine Grenzen: Wolfram Eilenberger versteht die Klimakrise als Bezugspunkt jeder künftigen Politik. © dpa/ Michael Kappeler
Kontingenz, Ökologie und Solidarität!
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Für den Pragmatisten Richard Rorty war 1989 die Ironie neben Kontingenz und Solidarität der entscheidende Leitgedanke. Für die jetzt anstehende Ampelkoalition müsste man Ironie durch Ökologie ersetzen, meint Wolfram Eilenberger.
Zu den weniger thematisierten Eigenheiten der anstehenden Ampelkoalition zählt die Tatsache, dass zwei ihrer drei Leitgestalten Philosophie studierten. Namentlich Robert Habeck von Bündnis 90/Die Grünen sowie Christian Lindner von der Freien Demokratischen Partei. Generationell durch exakt eine Dekade getrennt – Habeck ist Jahrgang 1969, Lindner 1979 –, fiel deren Studienzeit in den Übergang zwischen einer noch distinkt links, aktivistisch geprägten Universitätsintellektualität der 80er sowie einem eher privat orientierten, ideologiefernen Pragmatismus der 1990er- und 2000er-Jahre.
Solidarität und Selbsterschaffung
Philosophiegeschichtlich beispielhaft verkörpert wurde diese Übergangsphase durch das 1989 erschienene Werk "Kontingenz, Ironie und Solidarität" des amerikanischen Sozialdemokraten und Pragmatisten Richard Rorty. In diesem nimmt Rorty Abschied von der Idee, es könnte – oder auch nur sollte – eine endgültige Antwort auf die Frage geben, wie sich das Streben nach privater Vervollkommnung mit dem nach Gerechtigkeit und Solidarität widerspruchsfrei verbinden ließe.
Die modernen Forderungen nach Selbsterschaffung auf der einen und Solidarität auf der anderen Seite seien, so Rorty, vielmehr als gleichwertig und miteinander unvereinbar anzuerkennen. Der politische Riss zwischen Freiheit und Gerechtigkeit sei mithin durch kein noch so ausgeklügeltes Theoriechen zu kitten.
Was der aufgeklärten Pragmatistin des nahenden 21. Jahrhunderts bleibe, so Rorty, sei damit eine Haltung, die sich unter die Schlagworte Kontingenz, Ironie und Solidarität fassen ließe. Das Prinzip Kontingenz steht dabei für den tief liberalen Verzicht auf jedwede Idee eines versteckten Piloten in der Geschichte oder gar eines marxistischen Kladderadatsches, der das Weltgeschehen notwendig auf ein Ziel hinleite. Das Prinzip Ironie für die Einsicht, dass selbst unsere tiefsten Überzeugungen geschichtlich geprägt sind – und damit auch andere hätten sein können. Das Prinzip Solidarität schließlich für die dennoch unbedingte Hoffnung, die Leiden auf dieser global vernetzten Welt mögen geringer werden.
Unter dem Horizont der Katastrophe
Solches waren, wie gesagt, die Leitgedanken des ausgehenden Jahrtausends. Und man darf sicher davon ausgehen, gerade die beiden supersmarten Politpragmatisten Lindner und Habeck hätten Rortys Impulse in ihren Studien intensiv bedacht.
Und was bedeutet das für heute? Nun, an der Kontingenz und also tiefen Zufallsoffenheit allen Werdens – Corona sei's geklagt – hat sich seither nichts geändert. Auch nicht an der politischen Vernunfthoffnung, die Demütigung von Menschen durch Menschen möge dereinst ein Ende finden. Mit der Ironie im weitesten Sinne freilich steht es anders. Ihr Appeal hat deutlich gelitten. In Diskurs wie Haltung. Was nicht zuletzt mit unserem ökologischen Krisen-, gar Katastrophenhorizont zusammenhängt.
Transzendenz der Klimakrise
Ein neues, ganz und gar ironiefernes Unbedingtes hat Einzug in die politische Kultur gehalten. Nennen wir es: die Transzendenz der Klimakrise. Anstatt als nur eine Problemlage unter anderen, wird sie immer entschiedener als Hintergrund aller politischer Problemlagen adressiert. Gleichsam als einendes Zelt künftigen Gestaltens.
Ein Werk der politischen Philosophie, das es unternähme, Rortys sozial-liberale Impulse aus dem großen Wendejahr 1989 in die Jetztzeit zu übertragen, hätte deshalb heute den Titel "Kontingenz, Ökologie und Solidarität" zu tragen. Es müsste dabei durchaus nicht als Essay oder Traktat dahergekommen. Sondern gern auch in Gestalt eines Koalitionsvertrages – im Zeichen eines zukunftsoffenen Pragmatismus.
Gewiss, ganz ohne interne Widersprüche wird auch dieses Projekt nicht ablaufen können. Weder in Theorie noch Praxis. Aber es bleibt, gerade in der gegebenen Personalkonstellation, einen gemeinsamen Versuch wert. Also: Vorwärts!