Ordnung oder Fortschritt?
Der rechte Hardliner Bolsonaro hat gute Chancen, am Sonntag zum nächsten Präsidenten Brasiliens gewählt zu werden. Damit steht nicht nur die brasilianische Demokratie auf dem Spiel. Bolsonaro deckt auch einen Kernzweifel der Moderne auf.
Selige Zeiten, in denen philosophische Sentenzen noch ganzen Nationen den Weg wiesen. Wie beispielsweise in Brasilien. Nach dem Sturz der Monarchie im Jahre 1889 verfügten die dortigen Revolutionäre gar, das auf den französischen Wissenschaftsphilosophen Auguste Comte zurückgehende Diktum "Ordnung und Fortschritt" – "Ordem e progresso" – ins Zentrum der neuen Landesflagge einzuschreiben.
Dort strahlt es seither als Banner vor magisch blauem Sternenhimmel. Als ewig hoffnungsvolle Losung einer Nation, die noch bis vor wenigen Jahren als das Zukunftsland schlechthin gelten durfte: Brasilien, mutmaßliches Muster einer multikulturellen Gesellschaft, einer friedlichen Revolution, einer dynamischen, von Rohstoffen reich beschenkten Sozialdemokratie – eines gelingenden Modells, nicht nur für Südamerika, sondern für die ganze sich entwickelnde Welt.
Aufklärerisches Flaggen-Motto: Ordnung und Fortschritt
Anstatt haltloser Werturteile und religiöser Traditionen, so gab es Comtes Utopie vor, sollten wissenschaftliche Fakten und offene Empirie das Fundament des Handelns bilden. Anstatt Korruption und ausgrenzender Hass, Transparenz und tätige Liebe regieren. Anstatt elitärer, gewaltbasierter Ignoranz, klare demokratische Regeln.
Nimmermehr. Denn es müsste schon ein Wunder geschehen, sollte mit dem Rechtspopulisten Jair Bolsonaro nicht ein Mann zum Präsidenten gewählt werden, dessen politische Einstellung sämtlichen genannten Idealen Hohn spottet. Getragen von einer zynischen Allianz aus evangelikal Erweckten, alten Militärseilschaften, Wirtschaftseliten sowie einem Millionenheer perspektivlos verarmter Modernisierungsverlierer, verspricht Bolsonaro, mit harter männlicher Hand vor allem eines wiederherzustellen: Ordnung! Ordnung! Ordnung!
Von emanzipierendem Fortschritt hingegen keine Spur und Rede. Waffengesetze sollen gelockert, Frauenrechte beschnitten werden; Rechtstaatlichkeit massiv eingeschränkt, Selbstjustiz legitimiert; die Rechte der Indigenen auf Land und Lebensform ignoriert, die auf weitere Verheerung der Natur hingegen ausgeweitet.
Was stärken starke Männer?
Bolsonaros Kernversprechen besteht mit anderen Worten darin, sämtliche legalen, sozialen wie ökologischen Fortschritte, die das Land seit Überwindung der letzten Militärdiktatur im Jahre 1985 erreicht hat, im Namen der Ordnung nichtig zu machen. Seine Machtübernahme erscheint somit als weiterer Schritt einer globalen Verschiebung, in der kompromisslos auftretende Männer das vermeintliche Stabilitätsversprechen alter hierarchischer Ordnungen gewinnbringend gegen die Idee eines emanzipierenden Fortschritts mobilisieren.
Das mag verwundern. Und betrüben. Ganz ohne intuitive Deckung indes ist dieser "Backlash" nicht. Besteht die Kernüberzeugung eines jeden konservativen Menschenbildes doch darin, dass eine klare Ordnung in jedem Fall besser ist als keine oder auch nur eine unübersichtliche. Samt der Ahnung, Ordnung und Fortschritt könnten in Wahrheit einander ausschließende Leitbegriffe sein: Was schließlich mag "Fortschritt" bedeuten, wenn nicht die erfolgreiche und damit immer auch verstörende Überwindung eines bereits etablierten Ordnungs- und Handlungsmusters?
Ist Fortschritt die Überwindung von Ordnung?
So gesehen schiene das kosmisch tiefe Blau der Brasilianischen Flagge – mit Comtes Sentenz inmitten – jeden von uns vor eine gerade heute wieder entscheidende Frage zu stellen: Ordnung oder Fortschritt?
Machen wir uns die Antwort nicht zu leicht. Vor allem aber: Suchen sie wir sie als freie Wesen zunächst in uns, unter uns. Und nicht etwa mit bangem Blick in den fernen Sternenhimmel.