Philosophischer Wochenkommentar

Der bodenlose Abgrund der Freiheit

Zwei Plakate mit den Aufschriften "Schmerz" und "Angst" werben für einen Krimi-Roman auf den Gleisen am Ostbahnhof in Berlin.
Die Angst vor Terror-Anschlägen ist in Deutschland nach dem Attacken in Paris erneut aufgeflammt. © dpa / picture alliance / Stefan Jaitner
Von David Lauer |
Wir sollten unsere Angst überwinden und unser Leben weiterleben, trotz der Anschläge in Paris. Doch wer sich mit unserer Freiheit auseinandersetzt, macht eine entsetzliche Entdeckung, meint der Philosoph David Lauer. Denn auch Terror entspringt der Freiheit.
Die Angst ist der Feind der Freiheit. Auf diese Formel lassen sich viele Appelle nach den Terrorangriffen von Paris bringen. Die Angst, dass jeder meiner Schritte, und sei er noch so belanglos, meinen grausamen Tod besiegeln kann, lähmt das Vermögen, sich selbst zu bestimmen. So zersetzt die Angst vor der wahllosen Gewalt des Terrors die Freiheit von innen. Darum werden wir dieser Tage wieder und wieder darauf eingeschworen, diesen Zusammenhang zu durchbrechen.
Wenn wir uns von der Angst diktieren lassen, ob wir ins Stadion oder ins Restaurant gehen, haben die Terroristen bereits gewonnen. Wie es das Zitat sagt, das auf der aktuellen Ausgabe des Nachrichtenmagazins "Der Spiegel" steht: "Ihr wollt, dass ich Angst habe. Vergesst es!" Unsere Freiheit zu verteidigen, gebietet, unsere Angst zu überwinden und unser Leben weiter zu leben.
Das ist gut so und mutig und politisch richtig. Und dennoch: Aus einer philosophischen Perspektive darf man leise Zweifel anmelden, ob der Zusammenhang von Angst und Freiheit in dieser Reaktion vollständig erfasst ist. Martin Heidegger war der Auffassung, es gebe eine Form existentieller Angst, die nicht Einschränkung der Freiheit ist. Vielmehr ist sie die Form, in der sich Freiheit ihrer selbst in aller Radikalität bewusst wird. "Die Angst", so schreibt Heidegger in Sein und Zeit, "offenbart im Dasein das Sein zum eigensten Seinkönnen, das heißt das Freisein für die Freiheit des Sich-selbst-wählens".
Existentielle Angst im Sinne Heideggers
Mit anderen Worten (ohne Heideggerdeutsch): In der existentiellen Angst erschauert das Dasein gleichsam vor sich selbst, vor dem, was es eigentlich ist: kein bestimmtes oder auch nur bestimmbares Wesen, sondern ein Vermögen unendlicher Selbstbestimmung. Ich könnte anders handeln, anders sein, ein anderer sein, jetzt, hier, sofort: Der Schwindel bei diesem Blick in den bodenlosen Abgrund der Freiheit, Freiheit auch zum Bösen, die man nicht hat, sondern ist – das ist die eigentliche Angst.
Viel spricht dafür, dass es diese existentielle Angst in Heideggers Sinne ist, auf die uns die Bluttaten von Paris verweisen. Das eigentliche Entsetzen entsteigt der Erkenntnis, dass auch der Terror der Ausdruck gelebter menschlicher Freiheit ist, dass Menschen wie uns – Menschen aus unserer Mitte! – auch dies möglich ist: lächelnd und mit sich selbst im Reinen unschuldiges Menschenleben hinzuschlachten. Diese Angst wirft uns auf uns selbst zurück: Wir ängstigen uns vor und zugleich um etwas, das wir selbst sein könnten, das wir je selbst sind.
Solche Angst wäre dann nicht der Feind, sie wäre die Kehrseite der Freiheit. Und sie kann gerade nicht dadurch besänftigt werden, dass man die Flucht zurück in den Alltag antritt, wie Heidegger hellsichtig erkannte. Und so – als Flucht – ließen sich die gegenwärtigen Appelle, nur ja kein Fußballspiel ausfallen zu lassen, eben auch deuten. Die Angst zuzulassen und anzunehmen aber – auch das besagt Heideggers Satz – wäre dann nicht Einschränkung der Freiheit. Eher wäre das die notwendige Bedingung dafür, sich frei – ernsthaft, überlegt und verantwortlich – zur Bedrohung durch den Terror zu verhalten. Vielleicht also doch: Etwas mehr Angst, bitte?
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