Sehnsucht nach der Volksherrschaft der Gleichen
Am Ursprung der modernen Demokratie steht ein antidemokratisches Moment: die Ausschließung des Fremden und Anderen. Das schreibt Nils Markwardt in seinem Philosophischen Wochenkommentar. Er verweist dabei auf den Aufklärer Jean-Jacques Rousseau und dessen - aus heutiger Sicht fragwürdigen - Begriff der Brüderlichkeit.
Rüdiger Safranski fabuliert von einer "Flutung" Deutschlands, Peter Sloterdijk orakelt von "Selbstzerstörung" und Botho Strauß wähnt sich gar als "letzten Deutschen". Im Angesicht der Flüchtlingskrise weht unter hiesigen Intellektuellen wieder ein eisiger Wind von rechts. Was all diese Einlassungen dabei eint, ist zum einen der Hang zur apokalyptischen Endzeitrhetorik. Zum anderen, so wurde bereits vielfach bemerkt, auch eine gewisse Nähe zum Denken der "Konservativen Revolution". Also jener geistigen Strömung aus den 1920er und 1930er Jahren, in deren Zuge Denker wie Carl Schmitt die Sehnsucht nach Souveränität beschworen.
Und wenn Botho Strauß etwa vor einiger Zeit im Spiegel schrieb, dass er lieber in einem "aussterbenden Volk" leben wolle als in einem, das "mit fremden Völkern aufgemischt" wird, so sind die Parallelen zum rechtsradikalen Diskurs der Weimarer Republik tatsächlich nicht zu leugnen. Doch der Vergleich zur Konservativen Revolution hat auch Grenzen. Denn Carl Schmitt und Co. waren glühende Anti-Demokraten, die sich später teilweise dem Nazi-Regime andienten. Heute ist die Sache freilich komplizierter.
Sehnsucht nach einer Form der identitären Demokratie
Was sich dieser Tage in intellektuellen Kreisen offenbart, scheint nämlich nicht die Sehnsucht nach dem Führerstaat, sondern die nach einer Form der identitären Demokratie, einer Volksherrschaft der Gleichen zu sein. Oder anders gesagt: Momentan lässt sich eher eine spezifische Form des Rechts-Rousseauismus beobachten.
Der Name Jean-Jacques Rousseaus mag in diesem Zusammenhang zunächst überraschen. Firmiert der große Aufklärer doch zu Recht als Vordenker der Französischen Revolution, Theoretiker der modernen Demokratie und Ikone linker Bewegungen. Doch im ambivalenten Denken des Genfer Philosophen zeigt sich gleichzeitig auch das wirkmächtige Phantasma politischer Homogenität. Einer von Rousseaus Schlüsselbegriffen ist nämlich der volonté générale.
In diesem gleichermaßen absoluten wie heiligen Gemeinwillen verschmelzen die vielen Einzelwillen, beinahe wie von Zauberhand, zu einer geteilten Vorstellung des Allgemeinwohls. Behauptet Rousseau damit, dass es stets eine Art "wahres Interesse" des Volkes gebe, lässt sich seine Demokratietheorie weniger als Konzept einer pluralistischen Gesellschaft, denn als Entwurf einer vorpolitischen Gemeinschaft interpretieren.
Dieses Denken hat sich auch in einem der drei Schlachtrufe der Französischen Revolution niedergeschlagen. Im Begriff der Brüderlichkeit. Der Bruder, das ist nämlich der Verwandte, der Gleiche, der Nicht-Fremde. Beispielhaft zeigt sich das etwa auch in Friedrich Schillers Wilhelm Tell. In dem großen Freiheitsdrama, versammeln sich die Eidgenossen bekanntlich zum Rütlischwur, um den Brüderbund zu erneuern.
Teilhabe an Nation und Gemeinschaft - nur einer Voraussetzung
Doch dieser Brüderbund ist eben genau das: Ein Bund von Brüdern. Das heißt: Frauen und Fremde sind hier ausgeschlossen. Die Teilhabe an Nation hängt in dieser Vorstellung also weiterhin von Herkunft und Abstammung ab. Oder wie es im Stück heißt:
"Ob uns der See, ob uns die Berge scheiden
Und jedes Volk sich für sich selbst regiert,
So sind wir eines Stammes doch und Bluts".
Und jedes Volk sich für sich selbst regiert,
So sind wir eines Stammes doch und Bluts".
In dieser Lesart zeigt sich also ein Paradox: Am Ursprung der modernen Demokratie steht ein antidemokratisches Moment: die Ausschließung des Fremden und Anderen. Und wenn Rechtsintellektuelle dieser Tage pauschal gegen den Islam polemisieren und im Angesicht der Flüchtlingskrise die Endzeit beschwören, spricht da die Sehnsucht nach einer Herrschaft der Gleichen.
Doch das wäre das Gegenteil einer offenen und pluralistischen Demokratie. Denn diese, darauf hat der Philosoph Jacques Derrida aufmerksam gemacht, muss sich "jenseits der Brüderlichkeit" bewegen. Sie muss die Brüderlichkeit durch die Freundschaft ersetzen, eine "Freundschaft", die, Zitat, "über die Nähe des gleichartigen und gleichgeschlechtlichen Doppels hinausginge."