Wie Monsterhühner in die Wirklichkeit gelangen
Die amerikanische Fastfood-Kette Kentucky Fried Chicken geht gegen Gerüchte vor, sie würde acht-beinige und sechs-flügelige Hähnchen züchten. Diesen Unfug hatten die sozialen Netzwerken verbreitet. Oder ist vielleicht doch was dran? Das fragt sich Catherine Newmark.
Behauptungen, denen in der Wirklichkeit nichts entspricht, sind interessant. Höchst unwahrscheinlich, dass Kentucky Fried Chicken Mutantenhühner züchtet, um von jedem Hähnchen acht Beine und sechs Flügel verbraten zu können. Trotzdem sind die sozialen Netzwerke in China – und nicht nur dort – voll von Beschreibungen dieses monströsen Geflügels. Und von Bildern. Nicht etwa von Zeichnungen, sondern – Photoshop sei Dank – von ganz realistisch anmutenden Fotografien.
Angesichts dieser Bilder könnte man nun mit dem französischen Philosophen Paul Virilio über Virtualität nachdenken, und über den tiefen Einschnitt in die Logik der Wahrnehmung, den die Computertechnologie in die Welt gebracht hat. Wirklichkeit kann heute weniger denn je unmittelbar wahrgenommen werden. Mit dem allgegenwärtigen computergenerierten Bild hat Virilio zufolge die paradoxe Logik der Virtualität unsere Wahrnehmung übernommen. Wir sind es so gewohnt, realistische Bilder von Dingen zu sehen, denen in der Welt nichts entspricht, dass sie unser ganzes Wahrnehmungsverhalten prägen. Und folglich haben wir schlicht gar kein grundsätzliches Problem mehr mit Bildern von achtbeinigem Geflügel. So etwa könnte man mit Virilio sagen.
Aber das ist noch nicht alles. Denn in diesem Fall geht es doch wohl mehr um die Macht der Sprache denn um diejenige der Bilder. Die rufschädigende Kampagne gegen Kentucky Fried Chicken kommt aus den sozialen Netzwerken. Und auch wenn diese voller Bilder und Filmchen sind: In ihrem Wesen sind sie eher als ein Bildrausch ein permanentes Geschnatter. Das Monsterhuhn ist bevor es Bild wurde eine Behauptung – und zwar die gezielte Behauptung, dass es etwas gebe, das es nicht gibt.
Nützliche Fiktionen
Die klassische Philosophie kennt sich nun mit dem Reden über Unreales gut aus. Denn – anders als die vormoderne Kunst – war die Sprache immer schon fähig, über Dinge, die es nicht gibt, in genau der gleichen Weise zu sprechen, wie über solche, die wirklich existieren. Logische Sätze über frei erfundene Sachverhalte sind genauso einfach zu formulieren, wie solche über vorfindliche. Die mittelalterliche Scholastik etwa hat äußerst komplexe Systematiken der Engel aufgestellt. (Dazu gehörten, dies nur am Rande, auch die Seraphim, die Gottes Thron umstehen. Vor den Kentucky Fried Chicken Mutanten waren das die einzigen sechsflügeligen Wesen, von denen man gehört hatte. Aber auch sie waren, nun ja, nicht unbedingt real ...)
Von Engeln über Einhörner bis zu Alice im Wunderland: Die Unterscheidung von Sätzen über Wirkliches und Sätzen über Unwirkliches gehört seit jeher zu den Herausforderungen der Philosophie.
Dass man diese Unterscheidung flott überspringen kann, hat uns freilich nicht erst das Zeitalter der Virtualität gelehrt.
Der heute weitgehend vergessene Philosoph Hans Vaihinger hat bereits 1911 eine viel gelesene "Philosophie des Als-Ob" geschrieben. Darin zeigt er, dass das menschliche Denken immer auch mit fiktiven Behauptungen operiert. Und es möglich und sinnvoll ist, über Dinge zu reden, die es nicht gibt, als ob sie trotzdem wirklich existierten. Wobei: Vaihinger denkt nicht an Fabelwesen oder Monsterhühner, sondern an klassische metaphysische Begriffe. Gott. Seele. Was er aber sehr deutlich macht ist dies: Es ist kein Denkfehler, über Nichtvorhandenes so zu sprechen, als ob es existierte. Vielmehr ist es eine äußerst nützliche Fiktion. Deren Zweck ist es, Sinn in die Welt zu bringen, und – wenn auch sozusagen metaphorisch – eine Wahrheit über sie zu sagen.
Auch die Monsterhähnchen sind eine solche "nützliche Fiktion": nützlich zumindest denjenigen, die KFC schaden wollen. Und eben auch "wahr" in einem spezifischen Sinne. Zumindest bilden sie ziemlich präzise eine Wahrheit ab, an die viele zu glauben bereit sind: internationale Großkonzerne sind so böse, dass ihnen alles zuzutrauen ist, selbst das Experimentieren mit Mutantenvögeln.