Rechnet mit dem Unberechenbaren!
04:44 Minuten
Zum Jahreswechsel haben Prognosen Konjunktur - die meisten werden zwangsläufig danebenliegen. Aber woher kommt das Bedürfnis nach Rück- und Vorausschau? Und liegt in der Unvorhersehbarkeit womöglich auch etwas Tröstliches?
So unweigerlich wie die Verabschiedung eines zu Ende gehenden Jahres von allfälligen Rückblicken dominiert wird, so schlägt mit Beginn des neuen Jahres die Stunde der Prognostiker: 2019, die Megatrends – erfahren Sie schon heute, was wichtig wird! Die erkenntnistheoretische Fragwürdigkeit solcher Vorhersagen ist offensichtlich. Sie beruhen auf der wackligen Strategie, heutige Entwicklungen in die Zukunft zu projizieren und darauf zu hoffen, dass nichts dazwischenkommt. Was, wie sich leicht feststellen lässt, regelmäßig schiefgeht. Man kann das bedauern: Wie viel vernünftiger ließen Wirtschaft und Politik sich planen, wenn sich kommende Ereignisse nur besser vorausberechnen ließen.
Ambivalenz menschlicher Zeiterfahrung
Ich komme darauf zurück. Doch zunächst wäre zu fragen: Woher kommt eigentlich, alle Jahre wieder zum Jahreswechsel, dieser Drang zum Zurückblicken und Vorausschauen? Mir scheint, der Grund dafür liegt in einer gewissen Ambivalenz menschlicher Zeiterfahrung. Eigentlich ist es ja offensichtlich, dass in Wirklichkeit so gut wie nichts, was für unser Leben relevant wäre, mit dem Umschlag vom 31. Dezember auf den 1. Januar endet oder neu beginnt.
Nichts ist abgeschlossen oder abgegolten. Nichts ist neu oder wieder auf null gestellt, außer die willkürliche Zählung der Tage, die aber für alle lebenspraktischen Vollzüge eben genau die Zäsur nicht ist, zu der wir sie wider besseres Wissen hochjazzen. Das Leben geht eben weiter. Oder, wie Hannah Arendt schreibt: "Sterblich sein, das heißt in einem Universum, in dem alles im Kreise schwingt […], einen Anfang haben und ein Ende und daher in die ganz und gar ‚unnatürliche‘ Form einer geradlinigen Bewegung gebannt sein."
Vergeblicher Wunsch nach Ewigkeit
Gerade daher erklärt sich vielleicht, warum die Vorstellung einer ewigen Wiederkehr, wie wir sie in den Kreisläufen der uns umgebenden Natur beobachten, tröstlich erscheinen kann. Das Zahlenwerk menschlicher Kalender mit ihren im Jahresrhythmus wiederkehrenden rituellen Festen ist diesen Kreisläufen nachgebildet. Es verkörpert den menschlichen Versuch, an ihrer Ewigkeit teilzuhaben.
Die lineare und die zirkuläre Zeiterfahrung aber sind nicht zusammenzubringen. Aus ihrer Kollision fließt sowohl der Wunsch, den Jahreswechsel als Rückkehr an den Anfang zu zelebrieren, als auch und zugleich das melancholische Bewusstsein von der Vergeblichkeit dieses Wunsches.
Irgendwie beginnt zwar alles von vorn, aber doch eigentlich nichts, weil wir nicht von vorne beginnen können, sondern immer weiter voranschreiten müssen. So bleibt das Vergangene unwiederbringlich, wie das Kommende unprognostizierbar bleibt.
Wunder sind dauernd möglich
Beides könnte uns am Ende verzagen lassen, angesichts der Unbeständigkeit der Welt. Hannah Arendt aber lehrt, beides zu bejahen, weil es sich um die komplementären Seiten einer Münze von unschätzbarem Wert handelt: der menschlichen Fähigkeit, etwas in die Welt zu rufen, das es in ihr noch nicht gab und das von keinem Algorithmus vorhergesagt werden konnte.
Diese Fähigkeit, etwas Neues anzufangen, nennt Arendt schlicht: Handeln. Sie wird aber nicht durch den Kalender gestiftet, sondern durch die Freiheit, sie im öffentlichen Raum einer menschlichen Gemeinschaft zu verwirklichen. Diese Verwirklichung der Freiheit aber nennt Arendt ebenso schlicht: Politik. Politik ist da, wo gemeinsam gehandelt wird, und wo Politik ist, da gibt es weder Ewigkeit noch Vorhersagbarkeit.
Der Realismus im Politischen bestehe gerade darin, so Arendt, "in der Politik mit dem Unvorhersehbaren zu rechnen […] und Wunder dort zu erwarten, wo sie tatsächlich dauernd möglich sind." Ich neige dazu, das für einen tröstlichen Gedanken zu halten – jetzt, am Anfang eines neuen Jahres.