Hanno Depner: "Wittgensteins Welt – selbst hergestellt. Der 'Tractatus' als Turm zum Basteln und Begreifen"
Penguin-Verlag 2019, 82 Seiten, 22 Euro
Wittgenstein begreifen
06:05 Minuten
Begreifen durch Basteln: Das verspricht ein Buch mit Bausatz zu Wittgensteins "Tractatus logico-philosophicus". Eine schöne Idee, findet unser Autor. Doch leider ist die Bastelanleitung ungefähr so kompliziert wie der Tractatus selbst.
"Wovon man nicht sprechen kann, das muss man basteln." So lautet das Motto dieses Buches und Bausatzes des Autors Hanno Depner. Am Ende soll dabei ein siebenstöckiger Papierturm entstehen und die Etagen dieses Turmes sollen dann den sieben Hauptsätzen des Tractatus entsprechen. Ich muss gestehen, ich habe bisher überhaupt keine Ahnung von Wittgenstein. Und insofern bin ich vielleicht das ideale Versuchskaninchen für dieses philosophische Bastelexperiment, denn das Buch richtet sich explizit an Laien. Deshalb gibt es neben dem Bausatz und der Anleitung auch noch mehrere Begleittexte und Zitate zu Wittgensteins Denken. Aber entscheidend ist natürlich, was ich durchs Basteln über Wittgenstein lerne, sonst könnte ich ja ein x-beliebiges Einführungsbuch lesen.
Knicken, klappen, kleben - nur wo?
Ok, das Schubladen-Bauteil mit der Satznummer 1.1 heraustrennen und knicken. … Klebeflächen 1 auf 1… Ah ja, nach hinten knicken und dann… Häh? Horizontal nach hinten klappen und danach vertikal ringförmig herumklappen – also die Anleitung liest sich ungefähr so transparent wie der Tractatus selber, hab ich das Gefühl… ich hab keine Ahnung…
Ich bin so darauf konzentriert, nicht überall Klebespuren zu hinterlassen und einigermaßen diese Teile an den richtigen Ort zu kriegen, dass mir Null Zeit bleibt, über irgendwas nachzudenken."
Ein kompliziertes Geflecht aus Pappe und Phrasen
Für die Stufe 2, weil ich bei der ersten so frustriert war, hab ich mir jetzt mal Hilfe von meiner Freundin geholt, wir basteln jetzt zusammen…
Das Türmchenbauteil heraustrennen und alle nicht zugehörigen Teile entfernen… Wir müssen nur einmal fest andrücken, so… bumm, zacki peng, drin ist er gleich...
Nach dem Fundament mit den beiden Schubladen bauen wir jetzt zum ersten Mal diese Türmchen – das sind so ganz feingliedrige Konstrukte mit ganz vielen Durchbrechungen. Wie Teile von Spinnweben oder Schaltkreise sieht das aus, und da stehen so ganz klein gedruckt solche Zahlen, zum Beispiel 2.202 oder so… Und die repräsentieren vermutlich die Nebensätze, die von den Hauptsätzen jeweils abgehen. Und diese Papiergewebe faltet man dann so ganz kompliziert zusammen, klebt sie in die Schubladen und wenn man die aufzieht, dann kann man diese Türmchen wieder auffalten und sehen, welche Unterziffern zum entsprechenden Hauptsatz gehören. Aber was in diesen Nebensätzen drinsteht, das erfährt man eben nicht… Bei mir hat inzwischen echt der Pragmatismus eingesetzt, ich will's erstmal einfach nur zusammenbauen und dann schauen, ob ich irgendwas kapiert habe.
Vier Etagen und zahllose Stunden später haben wir jetzt die 6. Etage abgeschlossen und ich bin echt ganz schön am Ende. Was kam dabei noch rum? Mehr Schubladen, mehr Türmchen, Wahr-Falsch-Schalter, ein bewegliches Rad mit ziemlich komplizierten Logik-Formeln – aber verstanden hab ich davon die meiste Zeit nur Bahnhof, trotz der Begleittexte. Die haben mir zwar eine vage Vorstellung gegeben von Wittgenstein und seinem Denken, aber das Basteln selber hat dem kaum noch etwas hinzugefügt. Umso mehr freu ich mich jetzt auf die letzte Stufe 7, die ist nämlich ganz simpel. Nur ein Kubus, darin ein Fach mit einem einzelnen Streichholz, darauf eine Zündfläche und der Satz:
"Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen."
Die letzte Stufe: ein Zündholz
Ich ahne, worauf das hinausläuft – laut Begleittext kommt Wittgenstein im Tractatus Logicus zum Schluss, dass logische Erklärungen von begrenzter Reichweite sind. Und dass sich die eigentlichen Lebensprobleme der Menschen nicht innerhalb der Sprache, innerhalb der Logik lösen lassen – naja, und da habe er die Lesenden vor allem dazu anregen wollen, über seine vermeintlich letzten Sätze hinauszugehen:
"Ich bin der Meinung, die Probleme im Wesentlichen gelöst zu haben. Und wenn ich mich hierin nicht irre, so besteht der Wert dieser Arbeit darin, dass sie zeigt, wie wenig damit getan ist, dass die Probleme gelöst sind."
Habe ich also am Ende nur deshalb Nächte lang diesen Turm gebaut, um zu erkennen, dass er nichts nützt oder was? Ganz ehrlich, wenn es darauf hinausläuft, bin ich ziemlich sauer… Bleibt nur die letzte Genugtuung, das Streichholz zu zücken und den Turm dem Schweigen zu überlassen.