Philosophie, Pokemon und Politik
Seit drei Jahren betreibt der Brite Olly Lennard den Youtube-Channel "Philosophy Tube" mit 75.000 Abonnenten, über 190 Videos und zum Teil sehr unkonventionellen philosophischen Themen. Stephanie Rohde hat das Projekt für uns unter die Lupe genommen.
"Hi, my name is Olly, and I make videos about philosophy."
Würde Sokrates heute leben, würde er wohl nicht mehr auf dem Marktplatz von Athen philosophieren, sondern auf Youtube. So wie Olly Lennard mit seinen Philosophievideos. Ein wenig sokratisch mutet "Philosophy tube" schon an: Olly will die User nicht belehren, sondern mit Fragen dazu bringen, ihre vorhandenen Vorstellungen selbst zu hinterfragen.
"Bist du dieselbe Person, die du vor einem Jahr warst? Vor sechs Monaten? Und woher weißt du das? Was sind die Kriterien für eine kontinuierliche persönliche Identität?"
Fragt Lennard am Anfang seines achtminütigen Videos über Identität, das er wie die meisten Videos mit treibender Musik unterlegt – mal ist das gelungener, mal stört der Musikteppich eher.
Alte Gedankenexperimente in neuer Form
Unterhaltsam und lehrreich sind die rund zehnminütigen Videos vor allem, weil Lennard Philosophie kreativ und unkonventionell präsentiert. So gießt der studierte Philosoph alte Gedankenexperimente in neue Formen. Die alte Frage, was Identität ist, diskutiert er mithilfe einer "Star Trek"-Episode, in der einer der Offiziere beim Beamen dupliziert wird. Sind diese beiden Personen dann identisch? Lennard führt so den Philosophen Derrek Parfit an, demzufolge es weniger relevant ist, ob sie dieselbe Person sind, sondern vielmehr ob ihre Erinnerung überlebt.
"Das bedeutet, dass du dieselbe Person sein kannst in jeder Hinsicht, während du gleichzeitig nicht ganz identisch mit dieser Person bist, was merkwürdig ist. Was denkt ihr, was macht euch dieselbe Person über einen längeren Zeitraum, hat Parfit Recht, dass es ums Überleben und nicht um Identität geht?"
219 Menschen kommentieren. Unter dem Video entspannt sich eine für Youtube erstaunlich fruchtbare Diskussion unter anderem über die Frage, ob man die Identität einer Person an ihren Eigenschaften festmachen kann oder nicht. Die Kommentarspalte unter den Philosophy-Tube-Videos zeigt, dass viele der rund 75.000 Abonnentinnen und Abonnenten sich auch im Alltag mit Philosophie beschäftigen. Immer wieder bekommt er Mails von Dozenten, die seine Videos im Unterricht zeigen. Ursprünglich wollte Lennard aber gerade auch Menschen erreichen, die nicht Philosophie studieren.
"Ich habe damit angefangen, weil die britische Regierung die Studiengebühren verdreifacht hat. Weil es nicht viele gute Universitäten gibt, an denen man Philosophie studieren kann, und es sich Menschen teilweise nicht mehr leisten können, ist es noch schwieriger, Philosophie zu studieren. Ich finde es eine Schande, dass Philosophie so weggeschlossen ist, und deshalb habe ich beschlossen, alles was ich weiß, gratis zur Verfügung zu stellen, damit es jeder auf der ganzen Welt sehen kann."
Was würde Marx zu Pokemon sagen?
Rund 15.000 Mal wird ein Philosophy-Tube-Video angeschaut. Und nach drei Jahren weiß Lennard auch, was gut ankommt: Inzwischen bekommt er genügend Spenden von Fans, um die Videos kostendeckend zu produzieren.
Philosophierte er vor zwei oder drei Jahren über sehr klassische Themen wie den freien Willen oder die Zeit, ist er inzwischen unkonventioneller geworden:
"Ich habe Pokemon als Kind geliebt, aber ich habe nie über die moralischen Implikationen nachgedacht. Pokemontrainer ist ein Vollzeitjob, der davon abhängt, dass das Pokemon für dich arbeitet – aber dafür nie bezahlt wird."
Was würde Marx wohl zu dieser kapitalistischen Ideologie von Pokemon sagen?, fragt Lennard.
"Es gab viele Menschen, die Pokemon auf Youtube gesucht haben und dann auf mein Video gestoßen sind und gesagt haben: so habe ich noch nie darüber nachgedacht."
Sehenswerte Reflexionen zu politischen Themen
Neben diesen Spielereien sind Lennards philosophische Reflexionen zu politischen Themen wirklich sehenswert. Meistens bezieht er sich dabei auf zeitgenössische Denkerinnen und Denker, wie zum Beispiel: Giorgio Agamben, Falguni Sheth oder Julia Serano.
Wie wird Rassismus als Technologie der Ausgrenzung in liberalen Gesellschaften genutzt? Welche moralische Verantwortung trägt das Wahlvolk beim Brexit für die Migranten, die nicht mehr in Großbritannien aufgenommen werden?
Lennard umreißt diese komplexen Fragen knapp knackig – und auf hohem Niveau.
So debattiert er auch die aktuell diskutierte Frage, ob überzeugte Unterstützer von Bernie Sanders für Hillary Clinton wählen sollten, also ihre Prinzipien über Bord werfen, um den Republikaner Donald Trump zu verhindern. Läuft man da nicht Gefahr, einen politischen Standpunkt als neutralen philosophischen Ansatz zu verkaufen?
"Ich versuche so neutral zu bleiben, wie es geht, aber manchmal funktioniert es nicht, weil unsere Perspektive auf Neutralität natürlich auch gefärbt ist. Ich denke, Philosophie ist am interessantesten, wenn Macht und dominante Denkmuster infrage gestellt werden. Und meine Themenauswahl spiegelt das wider."
Das gefällt nicht allen. So postet der User Joseph Gubbels – mit u geschrieben! - unter ein Video zu Gendertheorien:
"Das größte Problem, das ich regelmäßig mit diesem Youtubechannel habe, ist, dass es meistens nur eine Seite des Problems beleuchtet."
Wie viel Politik darf sein?
Seine Kritiker nimmt er ernst, postet Kommentarschauen, in denen er sich mit deren Argumenten auseinandersetzt. Doch manche scheinen ein grundlegend anderes Verständnis davon zu haben, was progressiv ist.
"Ich habe sehr viel Kritik dafür bekommen, weil manche dagegen sind, dass Philosophie sich in die Politik einmischen sollte und Menschen befreien sollte."
Wie man nun über Lennards Positionen auch denkt, in politischen Krisenzeiten zeigt er, dass sich Philosophie nicht im Elfenbeinturm verstecken muss – sondern gerade auch auf populären Plattformen wie youtube ernstzunehmende Diskussionen anstoßen kann.