"Photography Calling!" in Hannover
Das Sprengel Museum in Hannover war das erste Museum, das Ende der 70er-Jahre begann, Fotografie als Kunst zu sammeln und auszustellen. Jetzt präsentiert eine neu eröffnete Schau Dokumentarfotos seit den 60er-Jahren bis heute.
Ein Straßenschild. Müll auf dem Gehweg. Ein Stück Auto. So fotografierte William Eggleston in den 70er-Jahren Momente des Alltäglichen.
Ein paar Räume weiter zeigt Laura Bielau die Arbeit Prostituierter. Und Thomas Struth hält unmenschliche Betonarchitektur fest.
So sehr sich diese Fotografien in Form und Inhalt unterscheiden - sie alle entstanden im "dokumentarischen Stil". In den 60er-Jahren von Eggleston, Lee Friedländer und Robert Adams durchgesetzt, erklärt Kurator Thomas Weski dessen Wesensmerkmale so:
"Erst mal hat man das Gefühl, dass die Differenz zwischen der künstlerischen Sicht und der eigenen eine ganz geringe ist. Also es wirkt erst einmal wie eine 1 zu 1-Abbildung der Welt. Aber es sind eben keine Dokumente, die diesen Anspruch hätten, sondern es sind eben subjektive Sichten auf die Welt. Aber eben in der Gestalt des Dokuments, die eben scheinbar autorlos ist: sehr sachlich, die Autorenschaft ist zurückgenommen, die künstlerische Handschrift. Und eigentlich bemerkt man diese Dinge erst, wenn man sie sich genau anguckt, und vergleichend betrachtet - dass dann eben diese individuelle Sicht auf die Wirklichkeit doch eine sehr starke ist."
Die Ausstellung führt die Vielfalt dieser künstlerischen Methode vor: In jedem Raum treffen zwei Positionen aufeinander. Wenn beispielsweise gleich im ersten Saal Arbeiten von Paul Graham und Stephen Gill aufeinanderstoßen, erzählen sie auch von grundlegend unterschiedlichen Haltungen zur Wirklichkeit: Graham untersucht engagiert soziale Verhältnisse, hier das Leben Farbiger in Louisiana. Gill hält Oberfläche und Flüchtigkeit des Alltags fest, zeigt Straßen, Menschen, Gegenstände entsprechend unscharf.
Ein anderer Saal konfrontiert Serien von Nicolas Nixon und Tobias Zielony miteinander und verdeutlicht dadurch, wie bestimmte Ideen des "dokumentarischen Stils" über Jahrzehnte hinweg weiterentwickelt wurden: So fotografierte Nixon 1982 Bewohner eines Armenviertels in Oakland aus dem Kreis seiner Protagonisten heraus. Ganz ähnlich ist heute Zielonys Anspruch, wenn er sozial ausgegrenzte Jugendliche zeigt. Thomas Weski:
"In den 80er-Jahren war es Nicolas Nixon noch möglich, mit einer sehr großformatigen Kamera zu arbeiten. Was ja ein ganz anderes Arbeiten voraussetzt: Eine Form der Vertrauensbildung auch. Ähnlich, aber dann nicht nur äußerlich vergleichbar, arbeitet auch Zielony, der auch aus der Mitte eines Themas fotografiert: Also sich erst mal vertraut macht mit den Jugendlichen, und zusammen Zeit verbringt, und dann aus dieser Innenperspektive sein künstlerisches Konzept umsetzt"."
Um Fragen der Wahrnehmung von Wirklichkeit geht es dagegen in Thomas Demands Papierinszenierungen oder Peter Feldmanns absichtlich künstlich wirkenden Blumenbildern. Und Wolfgang Tilmans präsentiert seine scheinbaren "Schnappschüsse" nun erstmals in digitaler Technik. Doch - und dies belegt die Ausstellung auf das Schönste: Die Möglichkeit einer jederzeit am Bildschirm konstruierbaren Wirklichkeit können dem "dokumentarischen Stil" nichts anhaben. Denn, so der Leipziger Hochschulprofessor Thomas Weski:
""Alle Arbeiten, die Sie hier sehen, sind zwar in Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit gemacht, aber sie sind auch Konstruktionen von Wirklichkeit. Oder Konstruktionen von Authentizität. Und die digitale Technik hat, was diesen Bereich der Fotografie angeht, eigentlich gar nichts verändert, sondern es ist einfach eine andere Form der Bildproduktion: Die Glaubwürdigkeit liegt immer eher in der Haltung oder der Methode, die angewandt wird, als in der Technik des Mediums, das man verwendet."
Zwei herausragend glaubwürdige Vertreter bilden das starke Finale der beeindruckenden Ausstellung: Die Aufklärer Martin Parr und Boris Mikhailov widmen sich auf entlarvende Weise dem Hier und Jetzt. Parr zeigte bisher die Armut großer Teile der arbeitenden Bevölkerung. Doch, so Kuratorin Inka Schube:
"Was er jetzt macht, und das sagt er auch so, ist, dass es eigentlich wirklich Zeit wird zu schauen, wo sitzen denn die, die den Alltag der Mitten bestimmen. Also die, die so globale Geldflüsse regeln, von dem Kapitalertrag ja doch offensichtlich sehr exhibitionistisch und ein luxuriöses Leben finanzieren."
Und so sieht man sie, wie sie sich auf Messen und Partys zur Schau stellen. Boris Mikhailov fotografierte kunstsinnige Damen und Herren, die sich für ein Theaterprojekt des antiken Antikriegsstücks "Die Perser" bewarben. Seine Aneinanderreihung der Profilaufnahmen wirkt, als suche er in ihnen nach Gemeinsamkeiten, nach Merkmalen, die diese bildungsbürgerliche Mitte der Gesellschaft auszeichnet und zusammenhält. Eine "Mitte", die hier eher auf die Bühne strebt, als gegen den Afghanistankrieg auf die Straße zu gehen. Ein zutiefst abgründiges Projekt, das der 74jährige hier vorstellt. Denn Mikhailov ist Jude, und er weiß, dass die Kommandanten faschistischer Konzentrationslager kulturelle Erbauung besonders schätzten.
Ein paar Räume weiter zeigt Laura Bielau die Arbeit Prostituierter. Und Thomas Struth hält unmenschliche Betonarchitektur fest.
So sehr sich diese Fotografien in Form und Inhalt unterscheiden - sie alle entstanden im "dokumentarischen Stil". In den 60er-Jahren von Eggleston, Lee Friedländer und Robert Adams durchgesetzt, erklärt Kurator Thomas Weski dessen Wesensmerkmale so:
"Erst mal hat man das Gefühl, dass die Differenz zwischen der künstlerischen Sicht und der eigenen eine ganz geringe ist. Also es wirkt erst einmal wie eine 1 zu 1-Abbildung der Welt. Aber es sind eben keine Dokumente, die diesen Anspruch hätten, sondern es sind eben subjektive Sichten auf die Welt. Aber eben in der Gestalt des Dokuments, die eben scheinbar autorlos ist: sehr sachlich, die Autorenschaft ist zurückgenommen, die künstlerische Handschrift. Und eigentlich bemerkt man diese Dinge erst, wenn man sie sich genau anguckt, und vergleichend betrachtet - dass dann eben diese individuelle Sicht auf die Wirklichkeit doch eine sehr starke ist."
Die Ausstellung führt die Vielfalt dieser künstlerischen Methode vor: In jedem Raum treffen zwei Positionen aufeinander. Wenn beispielsweise gleich im ersten Saal Arbeiten von Paul Graham und Stephen Gill aufeinanderstoßen, erzählen sie auch von grundlegend unterschiedlichen Haltungen zur Wirklichkeit: Graham untersucht engagiert soziale Verhältnisse, hier das Leben Farbiger in Louisiana. Gill hält Oberfläche und Flüchtigkeit des Alltags fest, zeigt Straßen, Menschen, Gegenstände entsprechend unscharf.
Ein anderer Saal konfrontiert Serien von Nicolas Nixon und Tobias Zielony miteinander und verdeutlicht dadurch, wie bestimmte Ideen des "dokumentarischen Stils" über Jahrzehnte hinweg weiterentwickelt wurden: So fotografierte Nixon 1982 Bewohner eines Armenviertels in Oakland aus dem Kreis seiner Protagonisten heraus. Ganz ähnlich ist heute Zielonys Anspruch, wenn er sozial ausgegrenzte Jugendliche zeigt. Thomas Weski:
"In den 80er-Jahren war es Nicolas Nixon noch möglich, mit einer sehr großformatigen Kamera zu arbeiten. Was ja ein ganz anderes Arbeiten voraussetzt: Eine Form der Vertrauensbildung auch. Ähnlich, aber dann nicht nur äußerlich vergleichbar, arbeitet auch Zielony, der auch aus der Mitte eines Themas fotografiert: Also sich erst mal vertraut macht mit den Jugendlichen, und zusammen Zeit verbringt, und dann aus dieser Innenperspektive sein künstlerisches Konzept umsetzt"."
Um Fragen der Wahrnehmung von Wirklichkeit geht es dagegen in Thomas Demands Papierinszenierungen oder Peter Feldmanns absichtlich künstlich wirkenden Blumenbildern. Und Wolfgang Tilmans präsentiert seine scheinbaren "Schnappschüsse" nun erstmals in digitaler Technik. Doch - und dies belegt die Ausstellung auf das Schönste: Die Möglichkeit einer jederzeit am Bildschirm konstruierbaren Wirklichkeit können dem "dokumentarischen Stil" nichts anhaben. Denn, so der Leipziger Hochschulprofessor Thomas Weski:
""Alle Arbeiten, die Sie hier sehen, sind zwar in Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit gemacht, aber sie sind auch Konstruktionen von Wirklichkeit. Oder Konstruktionen von Authentizität. Und die digitale Technik hat, was diesen Bereich der Fotografie angeht, eigentlich gar nichts verändert, sondern es ist einfach eine andere Form der Bildproduktion: Die Glaubwürdigkeit liegt immer eher in der Haltung oder der Methode, die angewandt wird, als in der Technik des Mediums, das man verwendet."
Zwei herausragend glaubwürdige Vertreter bilden das starke Finale der beeindruckenden Ausstellung: Die Aufklärer Martin Parr und Boris Mikhailov widmen sich auf entlarvende Weise dem Hier und Jetzt. Parr zeigte bisher die Armut großer Teile der arbeitenden Bevölkerung. Doch, so Kuratorin Inka Schube:
"Was er jetzt macht, und das sagt er auch so, ist, dass es eigentlich wirklich Zeit wird zu schauen, wo sitzen denn die, die den Alltag der Mitten bestimmen. Also die, die so globale Geldflüsse regeln, von dem Kapitalertrag ja doch offensichtlich sehr exhibitionistisch und ein luxuriöses Leben finanzieren."
Und so sieht man sie, wie sie sich auf Messen und Partys zur Schau stellen. Boris Mikhailov fotografierte kunstsinnige Damen und Herren, die sich für ein Theaterprojekt des antiken Antikriegsstücks "Die Perser" bewarben. Seine Aneinanderreihung der Profilaufnahmen wirkt, als suche er in ihnen nach Gemeinsamkeiten, nach Merkmalen, die diese bildungsbürgerliche Mitte der Gesellschaft auszeichnet und zusammenhält. Eine "Mitte", die hier eher auf die Bühne strebt, als gegen den Afghanistankrieg auf die Straße zu gehen. Ein zutiefst abgründiges Projekt, das der 74jährige hier vorstellt. Denn Mikhailov ist Jude, und er weiß, dass die Kommandanten faschistischer Konzentrationslager kulturelle Erbauung besonders schätzten.