Physikalische Weltsicht

Von Ernst Rommeney |
Der emeritierte Professor Hans-Peter Dürr beweist die Vielseitigkeit seiner Naturwissenschaft: "Das Lebende lebendiger werden lassen" beleuchtet gut lesbar Philosophie, Ökonomie, Natur- und Klimaschutz, Politik und Friedensforschung – aus der Sicht der Physik.
Die Quantentheorie habe eine Revolution ausgelöst, aber nur in der Physik, vielleicht noch in den Naturwissenschaften allgemein, nicht jedoch in Politik und Gesellschaft. Darum versucht es Hans-Peter Dürr noch einmal.

Selbst schon seit zwölf Jahren als Münchner Professor emeritiert, erläutert er jenes neue Denken, das vor 100 Jahren zunächst von Max Planck und Albert Einstein beschrieben, dann von Werner Heisenberg und Niels Bohr weiterentwickelt worden ist. Dadurch geprägt, zeigt der Schüler am Beispiel seiner Weltsicht, wie dieses neue Denken seiner Lehrer wirken und aus Krisen herausführen könnte.

Er schrieb anschaulich, gut lesbar ein schmales Buch von 160 Seiten – und doch sind seine Gedanken nicht leicht zu verstehen, wie er selbst einräumt.

"Wenn man über die neue Physik berichtet, ist es schon deshalb schwierig, weil sie für unsere Sprache gar nicht geschaffen ist, obgleich sie sich doch an unserer täglich erfahrenen Umwelt entwickelt hat." (S.24)

Doch da fängt es schon an. Wir halten uns an Objekten fest, an Materie, die wir sehen und greifen können. Darum seien wir über das Weltbild des 17. Jahrhunderts, geprägt von Galilei, Descartes und Newton, nicht hinausgekommen. Eigentlich gebe es diese Materie nämlich gar nicht. Denn noch Atome seien zerlegbar, scheinbar unendlich, bis kein Stoff mehr vorhanden sei.

"Wenn diese Nicht-Materie gewissermaßen gerinnt, zu Schlacke wird, dann wird daraus etwas Materielles. Oder noch etwas riskanter ausgedrückt: Im Grunde gibt es nur Geist. Aber dieser Geist verkalkt und wird, wenn er verkalkt ist, Materie." (S.24)

Nicht-Materie lässt sich abstrakt mathematisch ausdrücken, nicht aber in Worte fassen, auch nicht wissenschaftlich durchdringen. Hans-Peter Dürr versteht sie als Information, als Beziehung zwischen messbaren Punkten, als Potenzialität, die wie in einem Netzwerk miteinander korrespondieren und unsere Lebenswelt steuern – permanent, kreativ und offen, aber durchaus nach physikalischen Gesetzen.

Und entsprechend begreift er die Biosphäre nicht als fest gefügtes, starres Gebilde, sondern als sich ständig bewegendes instabil, stabiles System - gleich einem Kartenhaus. Es kann sich anpassen, neu erfinden oder auch völlig aus der Balance geraten. Dabei zerstöre es sich nicht selbst, vielleicht aber den uns gewohnten Lebensraum für Menschen, Tiere und Pflanzen.

Neues Denken also würde also bedeuten, uns und unsere Erde, die Materie, wie wir sie kennen, zu schützen und dabei die Methoden nachzuahmen, die wir in der Nicht-Materie zu erkennen glauben. Physikalisch ausgedrückt, müssten wir Energie mit kooperativer Intelligenz verbinden, so wie es dem Menschen gelingt, auf zwei Beinen zu laufen, ohne hinzufallen.

Die Menschen wandeln Energie mangelhaft und zerstörerisch um, wirft der Wissenschaftler unserem Lebensstil vor. Sie kommen mit der täglich eingestrahlten Sonnenenergie nicht aus, sondern verbrauchen in Jahrzehnten Rohstoffvorräte, die über Jahrtausende eingelagert wurden.

"Dies bedeutet auch, dass jeglicher Wertschöpfungsprozess notwendig mit einem Wertzerstörungsprozess verbunden ist, der ihn überkompensiert." (S.127)

Das ökonomische Denken aber erfasse diesen Prozess nicht vollständig, berücksichtige einseitig nur den Wert neu geschaffener Produkte und Leistungen. Nicht berechnet würde die dürftige Qualität der Energieumwandlung. Es entstehe zu viel minderwertige Energie. Sie werde als Abfall oder Luftverschmutzung sichtbar, in der Kernenergie sogar Quelle unvorstellbarer Zerstörung.

"Nein, so geht dies nicht. Die Prioritätenfolge muss genau umgekehrt sein! Die Natur, die natürliche Lebensgrundlage, ist das Fundament, in dem die Menschheit als Spezies existenziell eingebettet ist. Wir müssen dafür sorgen, dass die natürlichen Lebensgrundlagen nicht zerstört werden." (S.93)

Erst die Ökologie, dann die Gesellschaft und schließlich die Ökonomie, so setzt Hans-Peter Dürr die Prioritäten, wenn die Biosphäre nicht aus der Balance geraten soll. Der Homo sapiens sei eben mehr als nur ein Homo oeconomicus. Und darum ist ihm auch der Begriff Nachhaltigkeit zu langweilig, zu sehr klassischem Denken verhaftet. Er möchte das Lebendige lebendiger machen.

"Wir sollten also die Natur genauer betrachten, wie sie erfolgreich Plussummenspiele inszeniert. Sie hat es erstaunlich weit gebracht, wenn wir die enorme Komplexität ihrer Systeme betrachten, die sie zu meistern hat." (S.87)

Der Physiker bewundert an der Natur die kooperative Intelligenz, das Sich-Ergänzen, das Prinzip von "Versuch und Irrtum" in einer bunten Vielfalt von Möglichkeiten, eben Potenzialität. Von vorneherein sei eben nichts stabil, nicht die Biosphäre, nicht der Friede, nicht der Alltag der Menschen. Es gelte – auf intelligente Weise - die Instabilität zu stabilisieren.

Dazu empfiehlt er, offen zu sein für Neues und Fremdes, zusammen und nicht gegeneinander zu arbeiten. Feindbilder, festgefahrene Vorstellungen, Fundamentalismus wirken auf ihn wie erstarrte Materie, die ihre Form nicht mehr ändern will. So jedenfalls würde neues Denken nicht aus der Krise führen.

Wenn es darum geht zu begreifen, dass Nicht-Materie unsere Welt immer wieder neu erschafft, dann sollten auch die Menschen ihren Geist in seiner ganzen Vielfalt nutzen, um etwas zu bewegen. Der Naturwissenschaftler kann zwar empfehlen, Potenziale, die er beobachtet, zu nutzen, aber naturwissenschaftlich stößt er an seine Grenzen, vermag – wie gesagt – Geist und Nicht-Materie nicht zu erklären.

"Die aus der rationalen Reflexion geborene Erkenntnistheorie hat jedoch frühzeitig darauf aufmerksam gemacht, dass ein strukturiertes System sehr wohl Untersysteme bewerten kann, aber nicht Systeme, die ihm übergeordnet sind. Wir können unmittelbar nicht begreifen, was das Vermögen unserer Denkprozesse überschreitet." (S. 133)

Aber ignorieren will er die übergeordneten Systeme deswegen nicht, da er ja zumindest mathematisch fassen kann, dass sie existieren und wirken. Also ruft er die Poesie zu Hilfe.

"Naturwissenschaftliche Betrachtung versucht einen Zusammenbau, die poetische Beschreibung eine Zusammenschau der Wirklichkeit. In diesem Sinne sind die naturwissenschaftliche und die poetische Betrachtung komplementäre Betrachtungsweisen." (S.105)

Die Poesie überwinde zum einen den Tunnelblick der Experten, lasse zum anderen die Lebenserfahrung der gesamten Menschheit einfließen, und habe dadurch im neuen Denken ebenso ihren Raum wie das Transzendente, die Religion.

"Der Mensch bedarf, um handeln zu können, einer über seine wissenschaftlichen Erkenntnisse hinausgehende Einsicht – er bedarf der Führung durch das Transzendente." (S.108)

In Hans-Peter Dürr's Weltsicht ist durchaus Platz für Gott. Er bietet der Theologie an, sich mit der Naturwissenschaft zu versöhnen, aber ohne sich anzubiedern. Ein Versöhnen könnte nur gelingen, wenn sich Religionsführer und Gelehrte an die Spielregeln halten.

Niemand soll das letzte Wort in Sachgebieten begehren, von denen andere Disziplinen mehr verstehen. Und keine Glaubensrichtung hat das Recht sich über eine andere dogmatisch zu erheben.

Auch beim Ausflug ins Geistige bleibt er Physiker. Der Wahrheit ist er sich nie sicher. Er nähert sich ihr mit "Versuch und Irrtum". Im neuen Denken der Quantenphysik ist der Prozess das Lebenselixier, nicht die Gewissheit.

"Das ist eigentlich, was wir wollen: Was immer wir tun, es nicht nur bei dem zu belassen, was ist, sondern am Schluss noch lebendiger zu sein, als wir angefangen haben. Aber auch nicht unsere Lebendigkeit auf der Lebendigkeit um uns herum zu behaupten und zu steigern." (S.92)

Und wer bezweifelt, ob sich neues Denken jenseits der Naturwissenschaft durchsetzen kann, dem zumindest beweist der emeritierte Münchner Professor aus der Forschungsgesellschaft Max Planck aufs Neue, dass die Physik stets mitreden kann - in Philosophie und Ökonomie, Natur- und Klimaschutz, Politik und Friedensforschung.

Hans-Peter Dürr: Das Lebende lebendiger werden lassen. Wie uns neues Denken aus der Krise führt
oekom Verlag, München 2011

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Buchcover: "Das Lebende lebendiger werden lassen" von Hans-Peter Dürr
Buchcover: "Das Lebende lebendiger werden lassen"© oekom Verlag
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