Markolf H. Niemz: "Die Welt mit anderen Augen sehen. Ein Physiker ermutigt zu mehr Spiritualität"
Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2020
192 Seiten, 20 Euro
Die universelle Urkraft der Liebe
12:22 Minuten
Die Liebe ist wie Elektromagnetismus oder Gravitation eine universelle Urkraft. Das behauptet der Physikprofessor Markolf Niemz in seinem Buch „Die Welt mit anderen Augen sehen“. Ein Gespräch mit dem Autor über Gott, Liebe und Physik.
Christopher Ricke: Das Kirchenjahr geht zu Ende, heute ist Totensonntag, heute ist Ewigkeitssonntag. Da gehen die evangelischen Christen die Gräber ihrer Angehörigen schmücken so wie die Katholiken an Allerseelen. Der Friedhof ist ein Symbol der Vergänglichkeit, er hat eine Perspektive auf das Gegenteil, auf die Ewigkeit. Bevor es jetzt aber theologisch wird, biegen wir scharf ab und schauen uns die Sache mal naturwissenschaftlich an. Überraschenderweise hat das dann doch wieder was miteinander zu tun.
Die Physik der Ewigkeit
Ich spreche mit dem Physikprofessor Markolf Niemz, der in diesem Sommer ein Buch vorgelegt hat, mit dem er zu mehr Spiritualität ermutigen will: "Die Welt mit anderen Augen sehen". Da geht es zentral auch um die Ewigkeit. Warum beschäftigt sich denn ein Physiker mit Ewigkeit?
Markolf Niemz: Das hat verschiedene Gründe, da muss ich ein bisschen in die Vergangenheit zurückgehen. Ich habe schon im Studium Kontakt zu diesem Begriff Ewigkeit gehabt, weil wir in einem Seminar über die Relativitätstheorie von Albert Einstein über das Licht gesprochen haben und ein erstaunliches Ergebnis uns erarbeitet haben: Für das Licht hat im Grunde jede Distanz sowohl räumlich als auch zeitlich den Wert null.
Das heißt, dass für das Licht alles jetzt ist, das Licht ist sich allem bewusst, eigentlich könnte man sagen, das Licht ist in so einer Art Ewigkeit. Das hat mich damals stutzig gemacht, ich habe auch meinen Professor damals gefragt, er konnte mir aber nicht weiterhelfen. Er meinte, ich müsste da einen Theologen zu befragen. Das hat im Grunde in mir gearbeitet bis heute. Inzwischen sind ein paar andere Dinge noch dazugekommen.
"Ich bin das Licht der Welt"
Ricke: Das ist spannend, weil das Licht auch in allen Religionen eine wichtige Rolle spielt, nicht nur, wenn wir auf dem Friedhof eine Kerze anzünden, sondern auch, wenn wir in die Bibel schauen. Johannes zitiert Jesus mit "Ich bin das Licht der Welt". Jetzt kommen Sie und sagen, das stimmt möglicherweise. Ich dachte ursprünglich, Physiker beschreiben Licht als Welle und Teilchen.
Niemz: Zunächst mal, dieses Zitat, ist tatsächlich eines der wenigen, wo wir Jesus Christus wörtlich nehmen dürfen: "Ich bin das Licht der Welt". Ich glaube tatsächlich, dass der Weg zu Gott über das Licht führt. Natürlich haben Sie recht, weder Gott noch Ewigkeit sind Begriffe der Physik. Wir haben Bilder vom Licht, das sind die beiden Bilder, die Sie nannten: einmal, dass sich das Licht in einigen Experimenten als eine Art Welle offenbart, und zum anderen als Teilchen.
Aber diese beiden Bilder passen nicht zusammen, denn eine Welle breitet sich immer im gesamten Raum aus, während ein Teilchen an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit lokalisiert ist. Es gibt diesen sogenannten Welle-Teilchen-Dualismus, man versucht dann einfach, dualistisch an diesen Begriff Licht heranzugehen. Heute allerdings sage ich, die meisten Physiker und Physikerinnen werden mir zustimmen: Beide Bilder sind falsch.
Wir können uns nicht vorstellen, was das Licht ist, und ich glaube sogar, den Grund dafür gefunden zu haben, denn Licht breitet sich mit Lichtgeschwindigkeit aus, und wir Menschen können aufgrund unserer Masse niemals so schnell sein wie das Licht. Das heißt, wir können niemals begreifen, was Licht ist. Wie können wir etwas begreifen, dessen wir nicht habhaft werden können? Das, denke ich, erklärt, dass es durchaus Sinn ergibt, wenn die Religionen das Licht mit etwas Göttlichem gleichsetzen.
Zweigestirn von Liebe und Erkenntnis
Ricke: Sie beschäftigen sich mit Religion, mit Physik, auch mit Philosophie, und Sie wechseln in Ihrem Buch auch zwischen diesen Bereichen. Sie zitieren den Dalai-Lama und den katholischen Zen-Meister Willigis Jäger. Sie sind selber evangelischer Christ und Naturwissenschaftler. Das klingt nach einigen Widersprüchen.
Niemz: In erster Linie bin ich ein Mensch. In meinem Kopf sind natürlich verschiedene Dinge, die zusammenkommen. Es ist einmal mein naturwissenschaftliches Weltbild: Ich habe als Physiker gelernt, logisch zu denken, rational zu denken. Ein Weltbild, was ich habe, das erste Kriterium, was es erfüllen muss, es muss in sich schlüssig sein.
Aber ich bin auch gläubiger Christ, meine Familie, wir sind alle Christen. Es ist etwas, was in meinem Kopf irgendwo zusammengehen muss. Ich habe Wertvorstellungen, die Liebe und die Erkenntnis sind für mich die höchsten Werte, die es gibt in dieser Welt. Die Liebe, das ist etwas, was wir im Grunde im Christentum finden; Erkenntnis geht eher in Richtung Buddhismus – ich stehe auch dem Buddhismus sehr nahe. Ja, das kommt alles in meinem Kopf zusammen.
Es ist einfach mein Ziel, im Leben ein Weltbild für mich zu entwickeln, aber dann, wo ich jetzt überzeugt bin, dass das auch in sich schlüssig ist, auch an andere weiterzugeben, wo wir sowohl von naturwissenschaftlicher Seite als auch von geisteswissenschaftlicher Seite diese Welt beschreiben und in gewissen Zügen vielleicht auch verstehen können.
Suche nach der "Urwirklichkeit"
Ricke: Da sind wir möglicherweise bei dieser sogenannten Urwirklichkeit, die Willigis Jäger meint, der mal schrieb, die Religionen böten spirituelle Wege zur Erfahrung der Urwirklichkeit, also der Wahrheit. Diese verschiedenen Wege, die es da gibt, diese verschiedenen Religionen, packen Sie da die Naturwissenschaft mit dazu?
Niemz: Es sind verschiedene Wege. Ich habe persönlich auch einen sehr erlebnisreichen Nachmittag mit Herrn Jäger verbracht. Er hat mich ein sehr weises Bild gelehrt. Er hat mir gesagt, Wahrheit ist im Grunde so etwas, was wir oben auf dem Gipfel eines Berges erkennen können. Vom Gipfel eines Berges haben wir eine weite Sicht, da können wir viel sehen, können wir viel verstehen. Die Frage ist: Wie gelangen wir auf diesen Gipfel? Da gibt es eben verschiedene Wege.
Da gibt es natürlich Religionen – ich denke sehr wohl, dass Religionen uns einen Weg zu Gott oder einen Weg zur Wahrheit zeigen können. Es gibt die Philosophie, es gibt verschiedene Lebensphilosophien, also der Buddhismus ist eigentlich keine Religion, sondern eine Lebensphilosophie, und es gibt die Naturwissenschaften. Wenn Sie mich fragen, ich persönlich denke sogar, dass die Naturwissenschaften in gewisser Weise eine Abkürzung zu diesem Gipfel sind, also der kürzeste Weg, weil wir vieles nicht haben, was in meinen Augen bei den Religionen Ausschmückung ist.
Die Sprache der Naturwissenschaften ist die Mathematik. Das ist eine sehr klare, sehr nüchterne Sprache, hat aber den großen Vorteil, dass bestimmte persönliche Dinge, persönliche Schwierigkeiten - also, gerade die verschiedenen Religionen, denken wir mal an Christentum, Judentum, Islam, die Differenzen, die auch zu vielen blutigen Kriegen geführt haben, beruhen in meinen Augen letztendlich auf Ausschmückungen und Interpretationen, die nicht auftreten, wenn wir versuchen, die Welt mathematisch, logisch, rational zu beschreiben.
Verbindende Kräfte in der Natur
Ricke: Sie haben sich in Ihrem Buch für sechs Herausforderungen entschieden. Einen Teil davon kann man mathematisch-logisch beantworten, die Fragen zum Beispiel, was kommt zuerst, Huhn oder Ei, Raum oder Zeit, Sein oder Werden. Aber wenn es um Gut oder Böse, Schöpfer oder Schöpfung und Liebe und Verständnis geht, da verlässt man doch die Ebene der Naturwissenschaften.
Niemz: Das ist richtig. Aber da kommt wieder das, was ich vorhin sagte, dass ich als Physiker zwar rational denke, aber als Mensch und als Christ natürlich auch Gefühle habe und mir sicher bin, dass die genauso wertvoll sind. Das zeigt sich auch daran, dass ich Liebe und Erkenntnis ganz oben in meinem Weltbild verankert habe. Es ist richtig, die Liebe kann ich so nicht physikalisch deuten oder erklären, aber ich glaube, die Liebe hat eine ungeheure Kraft.
Wir Physiker bauen unser Weltbild auch auf dem Kraftbegriff auf. Wir versuchen, die Welt zu verstehen, indem wir verschiedene Kräfte definieren und darauf bestimmte Wirkungen zurückführen. Die Liebe ist eine Kraft. Sie ist zwar nicht messbar in physikalischen Einheiten, aber ich hab in meinem jüngsten Buch reingeschrieben, dass Liebe im Grunde das ist, was aus zweien eins macht.
So etwas finden wir auch in der Natur. Wir haben verschiedene Kräfte, die genau das machen. Ich würde sogar so weit gehen, zu sagen, dass die Urkraft, nach der heute im Grunde viele Physiker und Physikerinnen suchen, dass diese Urkraft etwas mit Liebe zu tun hat, dass Liebe vielleicht ein anderer Name dafür ist, weil Liebe etwas ist, was alles in diesem Universum irgendwo auf einen gemeinsamen Nenner verbindet.
In der Ewigkeit ist alles bekannt
Ricke: Kommen wir noch mal zum Anfang unseres Gesprächs, da waren wir bei der Ewigkeit und beim Licht. Man sagt auch, wenn jemand stirbt, "er geht ins Licht". Sie zitieren entsprechende Nahtoderfahrungen, die Sie sich genauer angesehen haben. Was macht das mit Ihnen persönlich und Ihrem persönlichen Glauben, frag ich Sie heute am Ewigkeitssonntag, was kommt denn, wenn der irdische Weg zu Ende gegangen ist?
Niemz: Ja, da habe ich mir in den letzten Jahren sehr viele Gedanken gemacht. Meine Eltern sind vor 13 Jahren kurz nacheinander gestorben, das war ein ganz großer Einschnitt in meinem Leben. Da hat sich sehr viel bewegt. Vorher habe ich auch mehr oder weniger in den Tag hineingelebt, bin natürlich meiner Arbeit nachgegangen. Aber mit diesem Einschnitt hat sich sehr viel in mir verändert, das hat dann auch dazu geführt, dass ich Bücher zu diesem Thema schreibe.
Ich möchte vielleicht einen Gedanken bringen: Ich hatte natürlich damals, kurz nach dem Tod meiner beiden Eltern, den innigen Wunsch, noch mal mit ihnen sprechen zu können, ihnen noch Dinge berichten zu können. Dann hatte ich plötzlich eine Eingebung, die bis heute nachhaltig ist und die mein heutiges Weltbild und auch meine Auffassung von Ewigkeit geprägt hat. Mir ist bewusstgeworden, dass in einer Ewigkeit, die alles umfasst – das ist meine Auffassung von Ewigkeit, sie umfasst alles, alles ist bekannt, da sind alle Informationen drin –, in einer solchen Ewigkeit macht es keinen Sinn mehr zu kommunizieren.
Kein schöner Augenblick geht mehr verloren
Was sollte ich denn zum Beispiel meinen Eltern noch mitteilen, wenn in der Ewigkeit alles bekannt ist. Ich möchte diesen Gedanken noch mal kurz wiederholen, denn das ist wirklich ein ganz wichtiger Gedanke: In einer Ewigkeit, in der alles bekannt ist, macht es keinen Sinn zu kommunizieren, weil im Grunde das Gegenüber dann schon die Information hat und alles weiß.
Als mir das klar wurde, ist mir aber noch etwas anderes in dem Zusammenhang bewusstgeworden: Wenn in der Ewigkeit alles bekannt ist, sind natürlich auch all die schönen Momente, alle die Erinnerungen, die Erlebnisse, die ich mit meinen Eltern geteilt habe, das ist alles für immer im Licht enthalten. Das gibt mir auch Kraft und Zuversicht.
Es ist für mich nicht unbedingt ein Wermutstropfen, jetzt zu glauben, es gibt kein Leben nach dem Tod, denn das kann ich mir tatsächlich nicht vorstellen, sondern es gibt mir Mut und Zuversicht, weil ich weiß, ich kann mit allem, was ich heute tue, was ich jetzt mit meiner Frau, mit meinen Kindern, was wir an schönen Erlebnissen haben, all das, mit all dem kann ich jetzt aktiv zur Ewigkeit beitragen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.