Der Priester am Klavier
Emil Gilels galt als unspektakulärer, ernsthaft arbeitender Musiker, der enorme Virtuosität und einen warmen pianistischen Ton vereinte. Er gilt als der führende russische Pianist des 20. Jahrhunderts. Heute vor hundert Jahren wurde Gilels in Odessa geboren.
"Emil Gilels war für mich wie ein Priester am Klavier. Der tiefe Ernst seiner Interpretationen, die uneitle Art seines Spiels waren für mich immer ein Vorbild. Er war nie darauf aus, nur brillant Klavier zu spielen. Sein Gespür für die feinsten Nuancen zog seine Zuhörer pausenlos in seinen Bann."
So beschreibt Kurt Masur, langjähriger Leiter des Leipziger Gewandhausorchesters, seinen Eindruck von der Arbeit mit dem russischen Pianisten. Emil Grigorjewitsch Gilels wird am 19. Oktober 1916 in Odessa, einem kulturellen Schmelztiegel zwischen Orient und Okzident, als Sohn eines Buchhalters geboren. Früh zeigt er Begeisterung für das Klavier, großes Talent, ein absolutes Gehör und eine schnelle Auffassungsgabe bringen den Jungen schnell voran, mit zwölf gibt er sein erstes Konzert. Zwangsläufig führt ihn sein Weg über das Konservatorium in Odessa bald nach Moskau, wo er dem Vater der russischen "Pianistenschmiede", dem aus Deutschland stammenden Heinrich Neuhaus, vorspielt. Doch der Lehrer ist von der zurückhaltend wirkenden Spielweise zunächst wenig überzeugt.
"Du bist doch ein Mann, der Beefsteaks essen und Bier trinken kann, aber man hat dich bis jetzt mit Kinderbrei gefüttert."
Erster sowjetischer Musiker, der in den USA auftreten darf
Später wird Neuhaus sein Urteil revidieren, zumal der 17-jährige Gilels beim wichtigsten russischen Wettbewerb nicht nur die Juroren überzeugt, sondern auch die Zuhörer zu stehenden Ovationen veranlasst.
Gilels besticht nicht nur durch enorme technische Brillanz, durch einen warmen und abwechslungsreichen Klang, sondern vor allem durch eine tiefe Natürlichkeit, durch eine Schlichtheit, die man im nichtmusikalischen Feld als "ehrlich" oder "aufrichtig" beschreiben würde. Trotz schwieriger Zeiten kann er seine Ausbildung fortsetzen, unternimmt ausgedehnte Tourneen in der UdSSR, 1938 gewinnt er einen Wettbewerb in Brüssel, eine internationale Karriere steht bevor.
Dass Gilels sich politisch "loyal" verhält, auf dem Höhepunkt des sowjetischen Verteidigungskrieges gar Mitglied der kommunistischen Partei wird, bringt ihm nach dem Krieg den Vorwurf ein, er habe sich durch die Diktatur instrumentalisieren lassen. 1955, mitten im Kalten Krieg, ist er der erste sowjetische Musiker, der in den USA auftreten darf. Zwei Jahre später wird der Kanadier Glenn Gould als erster westlicher Künstler in Moskau gastieren und damit die kulturelle Friedensgeste erwidern. Das amerikanische Publikum empfängt den "Staatskünstler" Gilels zunächst reserviert.
Gilels musiziert mit allen bedeutenden Orchestern
Doch auch hier ist die Begeisterung am Ende des Konzerts einhellig, die tosende Menge lässt ihn kaum von der Bühne. Neben seinem Pianistenkollegen Sjatoslav Richter – auch er übrigens ein Neuhaus-Schüler – gilt Gilels, dessen Karriere in den 1960er- und 70er-Jahren ihren Zenit erreicht, als der führende russische Pianist des 20. Jahrhunderts. Er musiziert mit allen bedeutenden Dirigenten und Orchestern, gastiert in den Metropolen Europas, Amerikas, Asiens und immer wieder in kleinen Städten der Sowjetunion, der er sich tief verbunden fühlt. Im Westen als "Klassik-Star" zu leben reizt ihn nicht, voller Stolz steht er zum Musikleben seines Heimatlandes.
"Der Tschaikowsky-Wettbewerb ist ein großes Musikfest, das bei uns alle vier Jahre stattfindet. Und ich bin glücklich, dass ich dabei sein kann und viele junge Musiker, die aus der ganzen Welt kommen, erleben kann."
Gilels, der 1985 in Moskau stirbt, geht in die Geschichte der Klavierinterpretation als Musiker ein, der bei aller Brillanz niemals oberflächlich oder nachlässig, niemals nur auf Wirkung berechnet musiziert. Der Musikkritiker Joachim Kaiser:
"Zu Gilels' Charme, seiner Vitalität, Gesundheit und seiner Pranke ist noch eine intellektuelle Überlegenheit, eine motorische und dramatische Modernität gekommen, die ihn wohl doch zum ersten Pianisten Russlands macht."