Annerose Schmidt und Peter Rösel
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Anlässlich des 30. Jahrestages des Mauerfalls ruft unser Autor Wolfgang Rathert in einer 4-teiligen Reihe im „Musikfeuilleton“ Pianisten ins Gedächtnis, die das Klavierspiel der DDR geprägt haben und internationale Ausstrahlung besaßen.
Annerose Schmidt und Peter Rösel haben unter allen Pianisten aus der DDR am stärksten internationale Beachtung gefunden. Eine solche Ausstrahlung und Wirkung war trotz des hohen Niveaus der Klavierausbildung in der DDR nicht selbstverständlich, denn zu stark erschienen die Hindernisse, die für einen jungen Pianisten einer internationalen Karriere entgegenstanden. Zunächst erzwang die politische Weltsituation, dass ein Studium nur in den Ländern des Warschauer Pakts möglich war, was in der Regel auch für Auftritte galt. Das Studium selbst war ein Balance-Akt: die eigene politische Zuverlässigkeit, aber auch die des Elternhauses entschied wesentlich über die Art der Förderung, gute Instrumente waren rar, und die Teilnahme an internationalen Wettbewerben mit enormen Hürden verbunden. So blieb auch der Radius der Laufbahnen von Dieter Zechlin, Siegfried Stöckigt und Elfrun Gabriel – im doppelten Sinn des Wortes – begrenzt, und die Wende änderte daran bei den beiden Erstgenannten nichts Wesentliches mehr.
Die beiden in der letzten Folge im Fokus stehenden Pianisten Schmidt und Rösel waren also die Ausnahme von der Regel. Für die Kulturpolitiker der DDR waren Schmidt und Rösel der lebende Beweis dafür, dass auch in der DDR-Pianistik das viel beschworene und ebenso belächelte „Weltniveau“ erreicht wurde, während man im Westen dazu neigte, beide Künstler als Staatskünstler geflissentlich zu ignorieren.
Annerose Schmidt, am 5. Oktober 1936 in Wittenberg an der Elbe geboren, wurde vom fünften bis zum 17. Lebensjahr von ihrem Vater, dem Direktor der städtischen Musikschule, in Klavierspiel und Theorie gründlich unterrichtet. Noch als Abiturientin ging sie als externe Studentin 1953 nach Leipzig, wo sie auf Wunsch des Vaters ein Lehramtstudium für Musik absolvierte und in Hugo Steurers Klasse Klavier studierte. Aufgrund ihrer Begabung durchlief sie das Studium in nur drei Jahren und nahm bereits 1955 am Warschauer Chopin-Wettbewerb teil. Als einzige gesamtdeutsche Teilnehmerin erreichte sie die Finalrunde, in der sie das 2. Klavierkonzert in f-moll von Chopin vortrug. Sie wurde von der Jury zwar nicht mit einem Hauptpreis, aber doch mit einer lobenden Erwähnung ausgezeichnet. Der Erfolg in Warschau war ein Anschub, dem unmittelbar danach der Gewinn des ersten Gesamtdeutschen Klavierwettbewerbs in Leipzig und 1956 des Internationalen Schumann-Wettbewerbs in Berlin folgten. Die Entscheidung, nicht den Beruf der Musiklehrerin zu ergreifen, war damit gefallen, und Schmidt baute sich in den kommenden Jahren eine Karriere als Konzertpianistin auf, die sie bald auch in das westliche Ausland, und das heißt auch in die Bundesrepublik (allerdings mit Ausnahme West-Berlins) führte.
Wollte man das Verzeichnis der Aufnahmen Annerose Schmidts drucken, die in den Archiven der deutschen Rundfunkanstalten zu finden sind, so käme man auf Dutzende von Seiten. Ihr Repertoire beginnt mit einer Sonate von Carl Philip Emmanuel Bach und endet mit dem Konzerstück f-moll von Carl Maria von Weber; dazwischen spannt sich ein weites Feld mit Werken von Bartók, Beethoven, Brahms, Chopin, Franck, Grieg, Liszt, Mozart, Prokofjew, Rachmaninow, Ravel, Reger, Reubke, Schubert, Clara und Robert Schumann, Strauss und Tschaikowsky. Etliche prominente DDR-Komponisten sind mit ihren Werken vertreten, darunter Fidelio F. Finke, Günther Kochan und Siegfried Matthus sowie der Wagner-Regény-Schüler Tilo Medek, der als Kritiker der Ausbürgerung Wolf Biermanns 1977 in die Bundesrepublik übersiedelte. Im Januar 1976 spielte Annerose Schmidt noch eine Reihe seiner "Kaminstücke" für Klavier ein.
Mit Gelassenheit ertrug sie es in ihrer langen Karriere, dass die westdeutschen Musikkritiker zumeist geflissentlich die Erfolge verdrängten, die sie mit ihren Auftritten bei den Salzburger Festspielen, auf dem Holland Festival, dem Prager Frühling oder in Japan feiern konnte; mit dem japanischen Label Denon startete sie in den 1980er Jahren eine Serie mit Chopin-Aufnahmen.
Nach Moskau ... und zurück - Peter Rösel
Die Pianistik in der DDR wurde von drei Schwerpunkten geprägt: Der größte war das kanonische klassisch-romantische Repertoire von Bach bis Reger, der zweite umfasste die Pflege zeitgenössischer Werke von Komponisten der DDR und der dritte die Musik russischer und sowjetischer Komponisten. Der Umgang mit dem letztgenannten Schwerpunkt blieb kulturpolitisch lange heikel. So waren die während und nach der stalinistischen Ära entstandenen Klavierwerke Schostakowitschs und Prokofiews gewissermaßen Pflicht, während die in der Zeit vor der Revolution fallende spätbürgerliche Musik von Rachmaninow und Skrjabin unter Vorbehalt stand oder tabu war; und dies galt erst recht für West-Emigranten, an erster Stelle Strawinsky. Hinzu kamen die enormen manuellen Anforderungen vieler dieser Werke, deren wirkliche Beherrschung im Grunde ein Klavierstudium in der russischen Schule voraussetzte. Die vorsichtige Annäherung der DDR-Pianisten an das russisch-sowjetische Repertoire geschah daher zögerlich und erst nach dem 20. Parteitag der KPDSU 1956, auf dem sich Chrustschow vom Stalinismus distanzierte.
Der eigentliche Durchbruch für die Popularisierung der Werke Prokofiews und Rachmaninows – und zwar des 2. Klavierkonzerts von Prokofiew und aller Werke für Klavier und Orchester von Rachmaninow – ist jedoch mit dem in Moskau ausgebildeten Pianisten Peter Rösel verbunden. Rösel kam am 2. Februar 1945 in einem Dresdner Krankenhaus auf die Welt, wenige Tage vor der beinahe vollständigen Zerstörung der Altstadt durch einen anglo-amerikanischen Bombenangriff. Seinen Vater, einen angehenden Kapellmeister, lernte Rösel nie kennen, er fiel als Soldat in den letzten Kriegsmonaten. Das Elternhaus wurde zerstört, und so wuchs er in der Wohnung seiner Großeltern auf. Durch seine Mutter, die als Mitglied des Dresdner Staatsopernchores in den 1950er Jahren auch bei den Bayreuther Festspielen mitsang, und den in seiner Freizeit musikalisch aktiven Großvater erfuhr er früh musische Anregungen. Mit sechs Jahren erhielt Rösel den ersten Klavierunterricht durch die renommierte Klavierpädagogin Ingeborg Finke-Siegmund, die den Weg für die Entscheidung des 14jährigen bereitete, Pianist werden zu wollen. Ein Jahr später wurde er in die Vorbereitungsklasse der Dresdner Musikhochschule aufgenommen, und bereits mit 18 Jahren gewann Rösel 1963 den 2. Preis des Robert-Schumann-Wettbewerbs in Zwickau. Eines der Jury-Mitglieder war der sowjetische Pianist Dimitri Bashikrov, der von Rösels Spiel so beeindruckt war, dass er ihm vorschlug, in seiner Klasse am Moskauer Tschaikowsky-Konservatorium weiterzustudieren. Mithilfe eines staatlichen Stipendiums konnte Rösel in die Sowjetunion gehen. Das fünf Jahre, von 1964 bis 1969 dauernde Studium in Moskau formte ihn zu einem Musiker und Pianisten auf höchstem Niveau. Eine wesentliche Rolle spielte dabei der nach dem zweiten Studienjahr erfolgte Wechsel in die Klasse von Lev Oborin, der unter anderem auch der Lehrer Vladimir Ashkenazys war.
Rösels Karrierebeginn in der DDR war zwiespältig. Man war einerseits stolz auf den überaus erfolgreichen deutschen Absolventen des Moskauer Konservatoriums, der noch während seines Studium erfolgreich als sechster Preisträger am Tschaikowsky-Wettbewerb und zweiter Preisträger am Klavierwettbewerb im kanadischen Montreal teilgenommen hatte, doch es gab auch Vorbehalte. Doch Rösel ließ sich nicht beirren, und wurde in den 1970er Jahren zusammen mit Annerose Schmidt zum erfolgreichsten Pianisten seines Landes. 15 Jahre, von 1976 bis 1991, stand er zudem als Solist des Leipziger Gewandhaus-Orchesters unter Vertrag. Die Verpflichtung zu 20 Konzerten im Jahr wurde in der Regel durch Tourneen abgedeckt, so dass Rösel 1978 mit dem Orchester unter Leitung von Kurt Masur erstmals in den USA auftrat und in legendären Konzertsälen von der New Yorker Carnegie Hall bis zur Hollywood Bowl spielte. Auf dem Programm standen das 3. Klavierkonzert von Rachmaninow und das 2. Klavierkonzert g-moll op. 16 von Prokofiew, das Rösel im Lauf seiner Karriere mehr als 100 mal spielte.
Spätestens in den 1980er Jahren stieg Rösel zu einem weltweit gefragten Künstler auf, der als einziger DDR-Pianist sogar in der Berliner Philharmonie spielte und 1987 sein Debüt bei den New Yorker Philharmonikern mit dem 3. Klavierkonzert von Sergej Rachmaninow unter der Leitung von Kurt Sanderling gab. Er arbeitete mit vielen großen Dirigenten wie Herbert Blomstedt, Bernhard Haitink, Rudolf Kempe und Kyrill Kondraschin zusammen, und pflegte auch intensive Partnerschaften als Kammermusiker und Liedinterpret – so mit dem Hornisten Peter Damm und dem Gewandhaus-Quartett oder als Partner von Peter Schreier. Aufnahmen mit ihm erschienen bei internationalen und westdeutschen Labels.
Peter Rösel hat seine Konzerttätigkeit in den letzten Jahren zunehmend nach Asien verlagert. In Taiwan, der Volksrepublik China, Japan und Südkorea hat er ein begeistertes Publikum gefunden, das auch seine dortigen CD-Veröffentlichungen – darunter die Einspielungen sämtlicher Beethoven-Sonaten und –Konzerte und der späten Mozart-Konzerte – schätzt. Im nächsten Jahr wird Peter Rösel seinen 75. Geburtstag feiern und hoffentlich mit seinem Spiel noch lange Hörer in aller Welt fesseln. Es ist aber nicht nur ihm, sondern vor allem dem deutschen Publikum zu wünschen, dass dieser Anlass uns das künstlerische Format und die immense musikalische Lebensleistung dieses großen deutschen Pianisten vor Augen und Ohren führt.