Picassos Augen zum Leuchten bringen

Von Jochen Stöckmann |
Wenn Arnold Newman Igor Strawinsky porträtiert oder andere Künstler, auch Unternehmer, Intellektuelle, Architekten, dann tragen die nicht ihre Prominenz zur Schau, sondern agieren am Schreibtisch oder vorm Reißbrett. Sie werden charakterisiert durch Gesten, Bewegungen, vor allem durch Atmosphäre.
Da hat der Fotograf jemanden ganz an den Rand eines Bildes gerückt, das im wesentlichen aus dem aufgeklappten Deckel eines Konzertflügels besteht. Dieses Ungetüm ragt wie eine gigantische Note schwarz in den hellen Raum hinein, so, als könnte es schon im nächsten Moment den Mann erschlagen. Wer da so seelenruhig seinen Kopf auf den abgewinkelten Arm stützt, tut angesichts dieser beängstigend schrägen Dynamik eigentlich nichts zur Sache. Denn wenn Arnold Newman Igor Strawinsky porträtiert oder andere Künstler, auch Unternehmer, Intellektuelle, Architekten, dann tragen die nicht ihre Prominenz zur Schau, sondern agieren am Schreibtisch oder vorm Reißbrett. In Ateliers und Werkstätten, werden sie charakterisiert durch Gesten, Bewegungen, vor allem durch eine Atmosphäre, die durch die Umgebung mit ihren Bildern, Skulpturen entsteht. Durch den Raum, wie Newman ihn so besonders ins Bild setzt, durch extreme Bildausschnitte und Flächenproportionen. Diesen ganzen Facettenreichtum eines fotografischen Oeuvres läßt Kurator William Ewing in der Berliner CO-Galerie aufblitzen - und dann ist da plötzlich ein ganz anders Bild, Marilyn Monroe in Großaufnahme, nur ein melancholisches, von Zigarettenrauch umwehtes Gesicht:

"Marilyn Monroe ist Gold wert - wenn man ein Foto ergattert. Doch Arnold Newman war kein Paparazzi. Aber sein Cousin gab eine Party und er fotografierte Marilyn im Gespräch mit dem Dichter Carl Sandberg. Ein wunderschönes Porträt - nein: ein Bild, noch kein Porträt. Dafür musste er erst diesen extremen Ausschnitt machen, ein blow-up."

Dieser extreme, einzig und allein auf das prominente Gesicht fokussierte Ausschnitt bleibt die Ausnahme - und eigentlich ein schwaches Foto. Denn magisch angezogen wird man von Newmans dichten Kompositionen. Mit seiner Auswahl, rund 200 relativ kleinformatigen, zur Hälfte noch nie publizierten Originalabzügen in Schwarzweiß, stützt sich Kurator William Ewing keineswegs auf eine zweite Wahl. Bei Arnold Newman gibt es kein unwichtiges Archivmaterial: dieser Fotograf folgte keinem festgelegten Stil, sondern einer grundsätzlichen Methode - deshalb sind alle Variationen aufschlussreich, ihr Vergleich ein ästhetischer wie kulturgeschichtlicher Genuß:
"Er wiederholt sich nie. Aber er geht immer in die Wohnungen, will zeigen, wie einer lebt - und wer er ist. Hier ein Paradebeispiel, das Glashaus von Philipp Johnson, fotografiert, als ob wir mitten drin sind. Dann die Lichtführung: alle Details innen und außen sind zu sehen - das ist schon eine meisterhafte Arbeit."

Technische Perfektion allerdings war für Arnold Newman nur ein Hilfsmittel. Am Ende lief alles hinaus aufs Kennenlernen des Gegenübers - auf Psychologie:

"Seine Hausaufgabe war die Lektüre. Eine wichtige, entscheidende Vorbereitung. Denn er wußte ja nicht, was dann bei einem Besuch passieren würde. Meist blieb eine Stunde, manchmal auch nur zwanzig Minuten, um zu erfassen, wo jemand für ein gutes Porträt Platz nehmen, sich bewegen sollte."

Nur so konnte es Newman gelingen, Jackson Pollock, diesen psychisch so labilen Vorreiter des abstrakten Expressionismus, auf einem düsteren Foto grimmig dreinschauen zu lassen, den Blick gerichtet auf eine wildbewegte Landschaft aus aufgetürmten Farbdosen, in denen kreuz und quer die Pinsel stecken, als seien sie eben noch wie Pfeile durch die Luft geschwirrt. Und Gewaltvisionen und Deformationen des menschlichen Körpers, wie Francis Bacon sie malt, übersetzt Newman ins Foto einer Glühbirne, die am schlangenförmig gewundenen Kabel wie an einem bloßgelegten Nervenstrang von der Decke herabbaumelt und das Gesicht des Malers mit schwarzen Augenhöhlen und einer grotesk deformierten Nase aus der Dunkelheit schält. Vor allem mit den bildenden Künstlern scheint Newman, der anfangs selbst Maler werden wollte, ein besonderes Verhältnis aufgebaut zu haben, weniger vertraulich als gleichberechtigt. Das wird besonders deutlich auf einem Kontaktbogen, den William Ewing bei seinen Recherchen aufgespürt hat: Zweimal 36 Aufnahmen von Pablo Picasso, mit eigenhändigen Kommentaren von Arnold Newman:

"Picasso im Atelier, Nummer 54 - irrtümlich für ein Künstlerbuch benutzt. Die 57 ist besser!" Mindestens 57mal hat er Picasso fotografiert, doch alle kennen nur dieses eine Bild. Aber schauen sie: dieses Foto ist tatsächlich viel besser. Und so gibt es für jedes Porträt vierzig, fünfzig Aufnahmen."

Wer jetzt genau hinschaut, kann erkennen wie Arnold Newman, der beharrlich-sanfte Porträtist, Picassos Augen zum Leuchten bringt. So frisch und prickelnd kann Fotoarchäologie sein.
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