PID - aus islamischer Sicht umstritten, aber möglich!

Von Lamya Kaddor · 04.01.2011
Die Präimplantationsdiagnostik, kurz PID, ist auch aus islamischer Sicht umstritten. Es wäre zu kurz gedacht, sich hier bloß auf die moralischen Gefahren dieser neuen Technologien zu konzentrieren.
Die Präimplantationsdiagnostik, kurz PID, ist auch aus islamischer Sicht umstritten. Es wäre zu kurz gedacht, sich hier bloß auf die moralischen Gefahren dieser neuen Technologien zu konzentrieren. Egal wie groß die Gefahren auch sind, die Nöte der Betroffenen bleiben in jedem Fall bestehen. Und wenn sich Eltern ein Lösungsweg bietet, werden sie ihn suchen und finden. Es geht also letztlich nicht darum, ob man das Machbare machen darf, sondern wie sich das Machbare kanalisieren lässt.

Um sich ein Urteil zu bilden, sollte man daher nicht bloß die theologischen Quellen befragen, sondern sich auch lange genug mit ungewollt kinderlosen Paaren oder jenen beschäftigen, die schwere Defekte in ihrer Erbmasse aufweisen.

Meist handelt es sich bei Anwendern der PID um Personen, die eine Odyssee nach der anderen hinter sich haben. Sie müssen Dutzende und unendlich lange Untersuchungen, physische und psychische Schmerzen über sich ergehen lassen. Die Mühen nehmen diese Eltern meist nur auf sich, wenn es eben möglich ist, ein gesundes Kind zu bekommen.

Aus meiner Sicht ist ihnen die Religion des Islam dabei kein Hindernis, sondern eine Stütze. Der Koran betont in Sure 2, Vers 185: "Der Glaube soll es Euch leicht machen, nicht schwer."

Theologisch lässt sich die Antwort, wie Gott zur PID steht, unter anderem am Zeitpunkt der Beseelung des Embryos festmachen. Der Koran spricht vom Einhauchen der Seele. Er sagt aber nicht, wann das geschieht. Nach herrschender Auffassung erfolgt dieser göttliche Akt frühestens am 40., spätestens am 120. Entwicklungstag des Embryos.

Hintergrund ist eine prominente Überlieferung des Propheten Muhammad, der demnach gesagt hat: "Wahrlich, die Schöpfung eines jeden von Euch wird im Leibe seiner Mutter in vierzig Tagen zusammengebracht; danach ist er ebenso lang ein Blutklumpen, danach ebenso lang ein kleiner Fleischklumpen. Dann haucht Er ihm die Seele ein."

Der Islamwissenschaftler Thomas Eich weist darauf hin, dass der Zeitpunkt der Beseelung von modernen islamischen Gelehrten zudem mit einer embryonalen Wachstumsphase in Zusammenhang gebracht wird. Verschiedene Hirnregionen verbinden sich miteinander.

Daraus wurde abgeleitet, dass die Bewegung des Embryos nun auf einen Willen zurückgehe, was zuvor ausgeschlossen gewesen sei. Die Existenz eines Willens wiederum sei Ausdruck der Existenz einer Seele, durch die eine individuelle Personalität hergestellt werde.

Die PID als reiner Eingriff wäre also anwendbar, wenn man den Menschstatus des Embryos erst mit dem Einhauchen der Seele verknüpft. Die Gegner argumentieren hingegen, menschliches Leben beginne bereits vorher: mit der Verschmelzung von Spermium und Eizelle.

Das zentrale ethische Problem der PID liegt nun aber nicht im Eingriff selbst, sondern vielmehr darin, dass man über das Leben selber entscheidet und bestimmt, wie und ob ein Leben lebenswert ist. Theologisch leiten die Gegner der PID hier das Verbot aus dem Koran in Sure 95, Vers 4 ab. Darin heißt es, dass Gott den Menschen "in bester Form" (fi ahsani taqwimi) erschaffen habe. Damit übernimmt Gott allein die Verantwortung für seine Schöpfung. Der Mensch hat nicht das Recht, in diesen Prozess hineinzupfuschen.

In Sure 2, Vers 286 heißt es ferner: "Gott bürdet keiner Seele mehr auf, als sie zu tragen vermag." Zudem wäre das Verwerfen eines Embyros analog zu einem Schwangerschaftsabbruch zu sehen. Und dieser ist nach bislang herrschender theologischer Lehre wegen der koranischen Schutzrechte des Menschen grundsätzlich verboten. Ausnahmen vom Abtreibungsverbot können gemacht werden, wenn die Schwangerschaft die Gesundheit bzw. das Leben der Mutter gefährdet. Dann aber höchstens bis zum 120. Entwicklungstag des Fötus.

Die Befürworter der PID wiederum halten zu Recht das islamische Prinzip dagegen, wonach Nützliches grundsätzlich erlaubt sei, solange es im Koran und in den übrigen Rechtsquellen des Islam kein Verbot gebe. Außerdem betonen sie, dass sich der medizinische Fortschritt im Rahmen des göttlichen Gesamtwillens bewege. Wenn die PID von Gott ungewollt sei, wäre sie nicht möglich. Ungeachtet der strafrechtlichen oder theologischen Bedenken muss, wie zuvor gesagt, eine tragbare Lösung mit Blick auf den Menschen gefunden werden.

Lamya Kaddor, geboren 1978 als Tochter syrischer Einwanderer, studierte Arabistik und Islamwissenschaft, Erziehungswissenschaft und Komparatistik an der Universität Münster, bildete dort vier Jahre (2004 bis 2008) islamische Religionslehrer aus und übernahm die Aufgaben einer Vertretungsprofessur "Islamische Religionspädagogik", derzeit arbeitet sie als Lehrerin im Rahmen des nordrhein-westfälischen Schulversuchs "Islamkunde in deutscher Sprache" in Dinslaken. Sie tritt als Sprecherin für das muslimische Wort, dem sogenannten "Forum am Freitag" des ZDF auf und gehört zum Beraterkreis "Islam" des niedersächsischen Innenministers Uwe Schünemann. 2010 gründete sie in Duisburg einen Verein für liberale Muslime. Sie hat an einem "Koran für Kinder und Erwachsene" und am ersten deutschsprachigen Schulbuch für einen islamischen Religionsunterricht "Saphir" mitgearbeitet. Außerdem schrieb sie das Buch "Muslimisch-weiblich-deutsch! Mein Leben für einen zeitgemäßen Islam" (2010). 2010 wurde sie mit dem European Muslim Women of Influence Award des europäischen, muslimischen Netzwerkes CEDAR ausgezeichnet, mit dem einflussreiche muslimischen Frauen in Europa gewürdigt werden.