Pier Paolo Pasolini

Eine verzweifelte Vitalität

Porträt von Pier Paolo Pasolini an einer Mauer im römischen Stadtteil Monteverde.
Pier Paolo Pasolinis Tod liegt bald 50 Jahre zurück, doch seine Positionen erscheinen uns heute regelrecht prophetisch. © imago / Pacific Press Agency / Matteo Nardone
Von Agnese Grieco · 05.03.2022
Am 5. März 2022 wäre Pier Paolo Pasolini 100 Jahre alt geworden. Der Autor, Dichter und Filmemacher wurde mit seinen polarisierenden und künstlerisch unvergleichlichen Arbeiten weltberühmt.
In dem Versuch einer Definition sagt Pasolini:
„Eine Definition meiner Selbst? Es ist wie die Frage nach der Definition des Unendlichen. Es gibt ein inneres und ein äußeres Unendliches. Wenn ich an mich denke, denke ich an etwas Unendliches. Es ist unmöglich für mich, dafür eine Definition zu finden. Für Sie bin ich wahrscheinlich etwas Bestimmtes, für mich aber bin ich unendlich. Ich bin der Spiegel des äußeren Unendlichen. Und ich kann es nicht definieren. Sicher könnte ich Slogans, Sprüche erfinden, womöglich nette Anekdoten, die für Salongespräche tauglich wären. Vielleicht kann ich aber einen Satz von Elsa Morante über mich zitieren: sie hat mal gesagt ich sei ein Narziss, der glücklich in sich selbst verliebt ist. Aber ich füge hinzu, ein Narziss, der auch unglücklich in die Welt verliebt ist.“

Ein unwürdiges Ende

Am 2. November 1975 in Ostia, Lungomare Duilio, bei Rom fährt um 1 Uhr 30 in der Nacht ein Alfa 2000 CT mit hoher Geschwindigkeit eine Straße entlang. Eine Einheit der Carabinieri verfolgt den Wagen und zwingt den Fahrer anzuhalten. Es ist ein junger Mann, gerade mal siebzehn Jahre alt. Sein Name ist Giuseppe Pino Pelosi. Er scheint außer sich zu sein. Am Kopf hat er eine Wunde. Die Wagenpapiere verraten, dass der Besitzer des Wagens der bekannte Schriftsteller, Filmemacher und Dichter Pier Paolo Pasolini ist.
Die Nachricht verbreitet sich blitzartig: Pier Paolo Pasolini ist von einem seiner Ragazzi di vita auf brutalste Weise ermordet worden. Der Schriftsteller ist am Tag seiner Ermordung 53 Jahre alt. Der Mord wird von der römischen Polizei in den Siebziger Jahren relativ schnell abgehakt, obwohl es Widersprüche und offensichtliche Unglaubwürdigkeiten in diesem Fall gibt. Im Gefängnis sitzt ein geständiger Schuldiger.
Zeitungsartikel über den Mord an Pier Paolo Pasolini mit einem Aufmacherfoto, das ein Auto zeigt.
Im November 1975 wird Pier Paolo Pasolini ermordet. Bis heute gibt es dazu offene Fragen.© imago / Pacific Press Agency / Matteo Nardone
Am 7. Mai 2005, dreißig Jahre nach dem Mord an Pasolini. In einer Fernsehsendung „Le ombre del giallo“ sagt Giuseppe Pelosi zum ersten Mal in der Öffentlichkeit, dass er in jener Nacht zwischen dem 1. und dem 2. November 1975 am Idroscalo nicht allein war. Drei Männer mit sizilianischem oder kalabresischem Akzent hätten Pasolini zu Tode geprügelt. Pelosi nennt auch Namen. Alles Menschen, die heute tot sind. Er habe versucht, Pasolini zu verteidigen und sich so die Verletzungen am Kopf zugezogen. So lautet heute die Wahrheit von Pelosi.

Prägung in der Kindheit

Pier Paolo Pasolini wurde am 5. März 1922 in Bologna geboren. In dieser „Stadt voller Bogengänge“, fing er vor dem zweiten Weltkrieg an, Kunstgeschichte zu studieren. Seine künstlerische Begabung und sein profundes Wissen spiegeln sich später in seiner Filmästhetik wieder.

In unserer Sendung Fazit sprachen wir mit der Literaturkritikerin Maike Albath über 100 Jahre Pasolini. Hier können Sie das Gespräch hören.

Die Beziehung zwischen Pasolini und seiner Mutter ist innig, eine Art Symbiose, eine große Liebe... „Sie erzählte mir Märchen, Fabeln, sie las sie mir vor. Meine Mutter war für mich wie Sokrates. Sie hatte, und hat immer noch, eine idealistische, und sicher auch eine idealisierte Auffassung der Welt. Sie glaubt wirklich an Heroismus, Barmherzigkeit, Mitleid, Großzügigkeit. Das alles habe ich auf eine fast pathologische Weise von ihr aufgesaugt.“
Die Beziehung zum Vater, einem Offizier, war von Anfang an belastet: „Jeden Abend wartete ich mit Panik auf die Stunde des Die Beziehung zum Vater, einem Offizier, war von Anfang an belastet: „Jeden Abend wartete ich mit Panik auf die Stunde des Abendessens, in der Gewissheit, dass es zu Streitereien kommen würde.“, in der Gewissheit, dass es zu Streitereien kommen würde.“

Bewegte Gemälde

Als Filmemacher war Pasolini Autodidakt. Sein Auge ist zweifellos an der Kunst der gro8en Meister der italienischen Renaissance und jener der Moderne geschult. Und genau darin liegt oft das Geheimnis der Schönheit seiner filmischen Bilder jenseits der Zerrissenheit und der Gewalt der dargestellten Charaktere und trotz der aufwühlenden Dramatik der Drehbücher.
Über seine Technik als Filmemacher schrieb Pasolini: „Was ich als Vision im Kopf habe als Sichtfeld sind die Fresken von Masaccio und Giotto – sie mag ich von den Malern am meisten, neben bestimmten Manieristen (zum Beispiel Pontormo).
Pier Paolo Pasolini und Ninetto Davoli stehen an einem Filmset hinter der Kamera.
Pasolini war Kommunist und Homosexueller, Querdenker und visionärer Dichter, Atheist und religiöse Seele.© imago / UIG
„Ich kann keine Bilder, Landschaften und Figurenkompositionen verstehen, die keinen Bezug haben zu dieser meiner anfänglichen Leidenschaft für die Malerei des 14. Jahrhunderts, die den Menschen zum Mittelpunkt jeder Perspektive macht. Wenn meine Bilder in Bewegung sind, dann so, als bewegte sich das Objektiv auf ihnen wie auf einem Gemälde: ich verstehe den Hintergrund immer als den eines Gemäldes, als ein Bühnenbild, und deswegen greife ich es immer frontal an."

„Salò“ - Die 120 Tage von Sodom und Gomorrha

Wenige Monate vor seinem Tod hatte Pasolini Salò oder die 120 Tage von Sodoma und Gomorra gedreht: ein brisanter Beitrag zur öffentlichen Diskussion über die Zukunft Italiens. Den Film, der sofort zum Skandal wurde, hat Pasolini als eine seiner gelungensten Provokationen gegen die Macht bezeichnet: „Es ist eine Macht, die auf horrende Weise den Körper manipuliert, und die in nichts der Manipulation Hitlers nachsteht: sie manipuliert die Körper durch die Veränderung des Bewusstseins, auf die übelste Art; durch die Schaffung neuer falscher und entfremdender Werte, Werte einer Konsumgesellschaft; ...“
Der Film ist eine radikale Kritik an den Idolen der Konsumgesellschaft und die Verdinglichung der Menschen. Er ist eine pessimistische Enthüllung der bestehenden Machtmechanismen.
In der Szene aus "Die 100 Tage von Sodom" halten drei Männer einen weiteren jungen Mann fest und verbrennen ihn mit einem Brandzeichen die Brustwarze.
Den Skandalfilm "Die 100 Tage von Sodom" drehte Pier Paolo Pasolini nur wenige Monate vor seinem Tod.© imago / Allstar / United Artists / Archive Mary Evans

Petrolio – ein Schlüsselwerk

In den letzten Monaten seines Lebens arbeitet Pasolini unter anderem an dem Roman Petrolio, der postum und unvollendet erst im Jahre 1992 veröffentlicht wird. Petrolio - Öl: ein Schlüsselwort und wohl auch ein Schlüsselwerk, ein ungeheuerlicher Roman. In Petrolio soll sich der Leser in ein Labyrinth begeben, in dem die Vergangenheit, sogar die mythische Welt der Antike, auf die brennende aktuelle Gegenwart trifft: „PETROLIO als Ganzes soll sich als kritische Ausgabe eines unveröffentlichten Textes darstellen (als Monumentalwerk, als modernes Satyricon). (…) Der fragmentarische Charakter der Gesamtanlage des Buchs bewirkt, dass bestimmte Erzählstücke in sich völlig geschlossen sind, dass man aber nicht unbedingt erkennen kann, ob es sich um wirkliche Ereignisse, um Träume oder um von einer Person vorgebrachte Vermutungen handelt.“
Nach fast vierzig Jahren liest man Petrolio heute auch auf der Suche nach Hinweisen und Spuren, wenn nicht gar Beweisen, die den Grund für den Mord an Pasolini erklären könnten. Den roten Faden des Romans bildet dabei eben jene Geschichte der Eni, dem mächtigen italienischen Ölkonzern, den Pasolini explizit erwähnt. Im Nachlass Pasolinis sind die Recherchen des Schriftstellers zur Geschichte der Eni dokumentiert.

Ein Leben außerhalb herrschender Konventionen

Kommunist, Homosexueller, Querdenker und visionärer Dichter, Atheist und religiöse Seele, Pasolini war in seinem Leben immer eine kämpferische unbequeme unkonventionelle Persönlichkeit gewesen. Sein „Anderssein“ symbolisiert den Protest der Poesie gegen die Umwandlung in eine Ware, gegen die Evolution der Technik, gegen den anthropologischen Völkermord, den er schon dunkel vorausahnt.
Seine Haltung verlangt eine unabhängige und schonungslose Auseinandersetzung mit der eigenen Biographie und mit der gesamten Geschichte des Landes. Seine Kritik am Kleinbürgertum, jener Klasse, der Pasolini selbst entstammt, ist gültig jenseits des marxistischen Kanons: „(...) Heute sind die italienischen kommunistischen Revolutionäre immer noch Kleinbürger im grauen Anzug, die die Dogmen des Katholizismus und des bürgerlichen Konformismus durch die Dogmen der marxistischen Ideologie ersetzt haben.“
Kurz vor seinem Tod hatte Pasolini in einem Interview gesagt: „Die Unbildung hat Italien zerstört. Ich kann ohnehin sagen, dass der echte Faschismus die Macht der Konsumgesellschaft ist. Und sie ist dabei, Italien zu vernichten. Das hat so schnell stattgefunden, dass wir es nicht wirklich wahrgenommen haben.“

Ausblick auf die Zukunft

Dreißig Jahre nach Pasolinis Tod gewinnt seine Position erneut Gewicht und offenbart prophetische Züge. Wir befinden uns in einer Zeit einer gewaltigen Migrationswelle aus den armen, politisch unsicheren Ländern, wie die Verse aus Alì dagli occhi azzurri belegen. Der Dichter evoziert ein Heer von Einwanderern, die das Mittelmeer überqueren und an der Küste Italiens landen... Enzo Siciliano schreibt in seiner großen Pasolini Biographie: „Pasolini sah eine stürmische Zukunft voraus, eine Zukunft voller sozialer Konflikte, zu deren Lösung die alten, festgefügten Schemata und die alten Überzeugungen keinen Beitrag mehr würden leisten können.

"Im Bild versinken": Der Maler und Dichter Giuseppe Zigaina spricht über seine Freundschaft zu Pier Paolo Pasolini. Ein vielschichtiges Hörspiel über die Mythen von Pasolinis Tod, ein Künstlerporträt und Zeitdokument - hier zum Hören .

Als kulturpolitischer Denker und Beobachter der Entwicklung unserer westlichen Gesellschaft ist Pasolini Ende der Siebziger Jahre zum Pessimisten geworden. Als Künstler kämpft er gegen die Verzweiflung an und bleibt empfänglich für den Zauber der Welt.

Weg zurück zur Menschlichkeit

„Der Atem Indiens“, ein Bericht über Pasolinis erste Reise durch den Subkontinent, beweist seine Faszination für ferne Länder: „Die Begegnung mit der Dritten Welt kann uns zeigen, dass es etwas wie einen gemeinsamen Nenner zwischen allen Menschen gibt.“
Die Botschaft Pasolinis ist klar: in den tiefen Schichten der Geschichte, des Lebendigen überhaupt, ist ein Kontinuum der Welterfahrung vorhanden. Und der Schlüssel, den wir brauchen, um uns diese Erfahrung wieder aneignen zu können, ist in unserem menschlichen Körper aufbewahrt oder begraben, solange er nicht von der Konsumgesellschaft beherrscht, versklavt und im Sinne Pasolinis verstümmelt worden ist.

Lesung:
"Pier Paolo Pasolini zum 100. Geburtstag"
Buchhandlung Knesebeck, Knesebeckstr. 11, 10623 Berlin

Literatur
Pier Paolo Pasolini: "Ragazzi di vita", 1955. (Deutsche Übersetzung von Moshe Kahn, Wagenbach, Berlin 1990
Hörbuch: Pier Paolo Pasolini: »Ragazzi di Vita«, aus dem Italienischen von Moshe Kahn
Gelesen von Michael Rotschopf, 1 MP3-CD, 565 Minuten
Pier Paolo Pasolini: "Petrolio", Romanfragment, posthum 1992 (Deutsche Übersetzung von Moshe Kahn, Wagenbach, Berlin 1994
Enzo Siciliano: "Vita di Pasolini". 1978. ("Pasolini. Leben und Werk." Übersetzung von Christel Galliani. Beltz & Gelberg, Weinheim 1980)
Hans Ulrich Reck, "Pier Paolo Pasolini", Wilhelm Fink Verlag, München 2010

Diese Sendung ist die Wiederholung aus dem Jahr 2012. Das Skript zur Sendung finden Sie hier.
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