Vor 40 Jahren: Mord an einem Zornigen
Als Essayist und politischer Kommentator machte sich Pier Paolo Pasolini bei vielen unbeliebt. Mit seiner Homosexualität ging er stets offen um. In Deutschland ist Pasolini zu allererst als Regisseur bekannt. Mit dem brutalen Mord an diesem Multitalent am 2. November 1975 wurde Italien seines wichtigsten Intellektuellen der Nachkriegszeit beraubt.
"Ich war 1975, als Pasolini ermordet wurde, zufällig in Rom, und ich werde sicher nie vergessen, wie wirklich lähmendes Entsetzen über der Stadt lag. Das war sozusagen das einzige Tagesgespräch und am nächsten Tag die Zeitungen, oder schon am Abend, vier, ja sechs Seiten, die nur gefüllt waren mit Kommentaren zu Pasolini."
Was der deutsche Kritiker Peter Hamm in Rom erlebte, verdeutlicht die Bedeutung von Pier Paolo Pasolini in seiner Heimat. Von Freunden als sanft und schüchtern beschrieben, hat doch kein Intellektueller des modernen Italien derartig provoziert und polarisiert wie der am 5. März 1922 in Bologna geborene Essayist, Lyriker, Romancier und Regisseur. Als unabhängiger Marxist, bekennender Homosexueller und unerbittlicher Fortschrittskritiker bewegte sich Pasolini in den Debatten seiner Zeit immer zwischen allen Positionen, wie Gereon Sievernich, Direktor des Martin-Gropius-Baus in Berlin erklärt:
"Er oszillierte in dieser politischen Geschichte Italiens damals, die viel weniger liberal war als sie es heute ist, zwischen den Polen und hat da seinen Weg gesucht, immer angeeckt. Er hat im Grunde gar keine Autorität anerkannt. Er griff immer tief in die Debatten des Italiens seiner Zeit ein mit seinen Filmen, mit seiner Literatur, mit seinen Gedichten."
"... dass für mich der ideale Zornige Sokrates ist"
Als Schüler verbrachte Pasolini die Ferien bei seinen Großeltern, die in Casarsa im norditalienischen Friaul lebten. Hier begann er in den 40er-Jahren Gedichte in friaulischer Mundart zu schreiben. Bewusst setzte er den Dialekt gegen den sprachlichen Zentralismus der faschistischen Machthaber. Pasolini, der 1949 wegen "bürgerlicher Verkommenheit" - gemeint war seine Homosexualität – aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossen wurde, wollte seine oppositionelle Haltung nie auf eine Parteilinie oder einen neuen Moralismus gründen, wie er in einem späteren Interview sagte:
"Sobald es in Italien einen Zornigen gibt, spürt er sofort die Notwendigkeit, nicht zornig, sondern revolutionär zu sein. Ein Revolutionär zu sein heißt heute in Italien, eine weitere Form von Moralismus anzunehmen. Deswegen erscheint mein nicht einzuordnender Zorn sofort als einer der seltenen Fälle von Zorn in Italien. Ich möchte noch dazu sagen, dass für mich der ideale Zornige Sokrates ist."
Die gewachsene bäuerliche Kultur und das vitale Subproletariat der Vorstädte wurden für den Künstler Quelle der Inspiration und politische Hoffnung zugleich. Die Filme Pasolinis – beginnend 1961 mit "Accattone" über kriminelle Jugendliche in den Slums von Rom – zeichnen sich allesamt durch sinnliche Kraft und Unmittelbarkeit aus:
"Zeichen meiner Arbeit war eine Art Sehnsucht nach dem Leben: Ein Gefühl des Ausgeschlossenseins, das die Liebe zum Leben nicht nimmt, sondern erweitert."
Seine Filmästhetik war nach eigenen Aussagen weniger von der Filmkunst geprägt als von der Malerei. Für den Realismus seiner Filme war der Einsatz von Darstellern aus dem Milieu entscheidend:
"Ich glaube, das ist das Wesentliche: Die Präsenz der Bilder oder der Akteure, die er ausgewählt hat. Also er hat immer wieder Laien gesucht, sozusagen als wollte er das Volk in seinen Filmen präsent wissen."
Verurteilt wurde ein 17-jähriger Stricher
Nach Sozialdramen wie "Accattone" oder "Mamma Roma" entstanden an antiken Schauplätzen wie Kappadokien oder Aleppo die bildmächtigen Filme "Edipo Re" und "Medea" nach mythischen Stoffen. In dem Film "Medea" von 1969 mit Maria Callas interpretiert er den antiken Mythos als Begegnung einer archaischen Kultur mit einer rationalistischen Gesellschaft, die dem Glauben an magische Welterklärung entwachsen ist. In der Szene Jasons mit den zwei Zentauren weist Pasolini dem Übernatürlichen einen Platz in unserer Gegenwart zu:
O-Ton Film "Medea":
"Ist es ein Traum?"
"Wenn es so ist, dann bist du es, der ihn träumt. In Wirklichkeit sind wir beide in Dir."
"Aber ich habe doch nur einen Zentauren gekannt?"
"Nein, du hast zwei gekannt. Einen heiligen, als du noch Kind warst, und einen profanen, als du dann heranwuchsest."
Pier Paolo Pasolini wurde in der Nacht des 2. November 1975 am Strand von Ostia erschlagen. Verurteilt wurde ein 17-jähriger Prostituierter, der den Mord zunächst gestand, später jedoch widerrief. Sicher ist, dass mehrere Täter beteiligt waren. Doch weil die Tat nicht abschließend aufgeklärt wurde, reißen die Spekulationen um einen möglichen politischen Mord an dem höchst unbequemen Intellektuellen bis heute nicht ab.