Rundfunkchor Berlin
Berliner Philharmoniker
Leitung: Pierre Boulez
Stimmen wie Glocken
Igor Strawinsky war ein vielseitiger Komponist, gerade wenn es um religiöse Musik ging. Die russisch-orthodoxe Kirche war seine geistige Heimat, aber auch der katholischen Kirche konnte er viel abgewinnen. Die "Psalmensinfonie" zeugt davon.
Eigentlich ist die "Psalmensinfonie" das, was man ein Gelegenheitswerk nennt. Der Komponist Igor Strawinsky, seit der Russischen Revolution ein gutes Jahrzehnt in Westeuropa beheimatet, lebt 1930 in Nizza und kann Geld gut gebrauchen. Der Dirigent und Mäzen Sergej Kussewitzky beauftragt ihn mit einem Stück zum 50-jährigen Bestehen des von ihm geführten Boston Symphony Orchestra. Und dann ist da auch noch ein Verleger, der von Strawinsky etwas "Populäres" haben möchte.
Ob letzteres mit der "Symphonie de psaumes", der "Psalmensinfonie", gelungen ist, bleibe dahingestellt. Immerhin wird dieses Werk vergleichsweise regelmäßig gespielt und stellt wohl die bekannteste musikalische Auseinandersetzung Strawinskys mit der Religion dar. Begriffe wie "geistliche" oder gar "liturgische" Musik werden durch die teils sperrigen Mischformen, die Strawinsky bevorzugte, nicht unbedingt nahegelegt.
Die magischen Kräfte des Komponisten
Populär sind an diesem Werk immerhin die vertonten Texte, die Psalmen 38, 39 und 150 aus der lateinischen Vulgata-Übersetzung der Bibel. Und natürlich Strawinskys Entscheidung, diese Komposition überhaupt als Sinfonie zu bezeichnen und damit einen üblichen Gattungsbegriff zu wählen. Denn nicht nur die Tatsache, dass diese Sinfonie auch von einem Chor gesungen wird – der "Lobgesang" von Felix Mendelssohn Bartholdy grüßt aus der Ferne –, steht dem eigentlich entgegen, sondern auch das ungewöhnliche Orchester, das mit verstärkten Bläsern, zwei Klavieren und nur tiefen Streichern besetzt ist.
Ebenso ungewöhnlich ist der Klang, den Strawinsky mit diesen Mitteln erzielt: Einem Litanei-artigen ersten Satz folgt eine komplexe Doppelfuge, die in die verhaltene Ekstase der finalen "Alleluia"-Rufe mündet. Dort, wo das Lob des Herrn "in cymbalis" ertönen soll, scheint Strawinsky geradezu magische Kräfte aufzubringen, um die Stimmen in sanft pendelnde Glöckchen zu verwandeln.
1996 hat der Komponist und Dirigent Pierre Boulez (1925-2016) die "Psalmensinfonie" gemeinsam mit dem Rundfunkchor Berlin und den Berliner Philharmonikern aufgeführt – scharfsinnig und transparent, dabei zutiefst atmosphärisch. Den jungen Boulez hatte mit dem stets für alles Neue offene Strawinsky einst eine spannungsvolle Freundschaft verbunden.
Im Geist des Komponisten
Kreative und generationsmäßige Differenzen – Strawinsky war gut vier Jahrzehnte älter als Boulez – wurden zum Teil scharf diskutiert, aber das Engagement für Strawinskys Werk hat Boulez bis in seine letzten Auftritte als Dirigent aufrechterhalten. Unsere Präsentation dieses inzwischen historischen Konzertmitschnitts ist eine Hommage zu Strawinskys fünfzigstem Todestag – und in Boulez‘ fünftem Todesjahr.
Philharmonie Berlin
Aufzeichnung vom 09.02.1996
Aufzeichnung vom 09.02.1996
Igor Strawinsky
"Psalmensinfonie" für Chor und Orchester
"Psalmensinfonie" für Chor und Orchester