Pierre Charbonnier: "Überfluss und Freiheit"
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Wie die Klimakrise in unseren Begriffen wurzelt
07:00 Minuten
Pierre Charbonnier
Übersetzt von Andrea Hemminger
Überfluss und Freiheit. Eine ökologische Geschichte der politischen IdeenS. Fischer, Frankfurt a.M. 2022506 Seiten
36,00 Euro
Wir fürchten die Klimakrise wegen ihrer Folgen, verdrängen aber, dass sie tief in unserem Freiheitsideal wurzelt und in dessen enger Bindung an materiellen Überfluss, mahnt der Philosoph Pierre Charbonnier. Leider bleibt er seltsam unentschlossen.
Dass die Klimakrise auch eine soziale Krise ist, bezweifelt heute niemand mehr. Allerdings denken wir dabei eher an die Folgen: Dürren, Hunger, mitunter sogar Kriege. Als Gründe und Ursprünge machen wir meist die rücksichtslose Ausbeutung der natürlichen Ressourcen verantwortlich, kaum je die Naturvorstellungen und Denkformen, die dieser Mentalität geschichtlich zugrunde lagen und noch liegen. Gerade wegen dieser tief verwurzelten Denkformen aber sei die Überwindung der Klimakrise so schwierig, behauptet der französische Philosoph Pierre Charbonnier.
Der Sündenfall: Die Wandlung von Natur in Besitz
Ähnlich wie sein indischer Kollege Chakrabarti geht er dabei weit in die Mentalitätsgeschichte zurück. Die moderne Öko-Thematik verdichtete sich zwar erst in den letzten 50 Jahren, doch lange vor der sogenannten Industriellen Revolution habe sich das Welt- und Menschenbild entscheidend verschoben, sagt Charbonnier. Der Sündenfall: Irgendwann wurde die Natur von einer, allen Menschen zugänglichen Ressource zu einem Besitz, also einer Ware. Gleichsam zu einer Rechtsform wurde der Mentalitätswandel mit der politischen Ideologie John Lockes, dem Urvater des Liberalismus: Land sollte denen gehören, die es bearbeiten.
Das heute scheinbar unanfechtbare Mantra, die Wirtschaft müsse unaufhörlich wachsen, verband sich im Zuge der Frühaufklärung mit dem Versprechen der Freiheit: Je mehr Besitz man hatte, desto weniger abhängig und verwundbar, desto autonomer war man. So entstand, was Charbonnier den "sozialen Pakt" nennt und was dem Buch den Titel gibt: Die Dialektik von Überfluss und Freiheit.
Natur, Wirtschaft und Politik zusammendenken
Soziale und politische Ideen entstehen nicht nur in den Köpfen, sie haben handfeste materielle Grundlagen. Eine Natur an sich gibt es nicht, nur eine auf bestimmte Weise erlebte und begriffene Natur; und diese Begriffe hängen von den Lebensumständen ab, weiß der Autor. Der Fehler der westlichen Mentalitätsgeschichte war Charbonnier zufolge, Natur, Wirtschaft, Recht und Politik als jeweils getrennte Systeme zu begreifen – noch heute denken wir ja, wir müssten die Sphären 'versöhnen' bzw. Kompromisse zwischen ihnen schließen. Dabei ist ihr geradezu zwangsläufiger Zusammenhang offenkundig: Wenn Freiheit von der Verfügung über Ressourcen abhängt, sind die Armen von der Demokratie ausgeschlossen – ein gegenwärtig unverkennbar fortschreitender Prozess.
Charbonnier kehrt also die übliche Fragestellung nach der Beziehung zwischen Natur und Gesellschaft geradewegs um: Statt die Naturausbeutung vorauszusetzen, versteht er sie als Effekt bestimmter gesellschaftlicher Konflikte: "Wie haben die Kämpfe um Emanzipation und politische Autonomie die intensive Nutzung der Ressourcen zur Entfaltung gebracht?"
Bürgerliche Freiheit begünstigt den Ressourcenverbrauch
Wenn man die gängige Kausalität auf diese Weise umkehrt, lässt sich auch auch anders etwa über das Verhältnis zweier zeitgleicher Revolutionen nachdenken: der politischen Französischen und der sogenannten Industriellen Revolution: Erst das neue bürgerliche Freiheitsversprechen, so legt Charbonnier nahe, brachte den Bedarf nach einem unaufhörlich wachsenden Ressourcenverbrauch hervor – ein Bedarf, der jedoch im Ideal des unaufhaltsamen Fortschritts nicht eingepreist wurde.
War also das bürgerliche Freiheitsideal in seiner engen Bindung an materiellen Überfluss der Vater der heutigen Entwicklung? Und ist die unaufhaltsam sich weitende Schere zwischen Arm und Reich das Ergebnis dieses von Anbeginn destruktiven Fortschritts-"Pakts"? Der Autor bleibt hier seltsam unentschlossen. Und auch sein Herzensanliegen verfolgt er leider nicht konsequent zu Ende: die Frage, aus welchen Bevölkerungskreisen denn jenes (früher so genannte) revolutionäre Subjekt heranreifen könnte, das die suizidale Zwangsehe aus Wachstum und Selbstzerstörung scheiden könnte.
Trotz mancher Schwächen lesenswert
Trotz des etwas holprigen Stils und einiger unausgegorener Thesen ist das Buch unbedingt lesenswert, weil hier jemand den heute seltenen Mut aufbringt, mehr als nur kleinteilige Lebensstil-Reparaturen anzuraten: Wenn es nach Charbonnier geht, muss unser ganzes – individuelles wie soziales – Selbstverständnis auf den Prüfstand.